Ein Team des deutschen Filmunternehmens Ufa setzt Ende 1944 alles daran, aus Berlin wegzukommen. Denn: «Die Alpen sind wunderbar weit weg von Berlin. Dort fallen keine Bomben. Wer da einen Film dreht, ist in Sicherheit», schreibt der Drehbuchautor Werner Wagenknecht in sein Tagebuch. Unter einem Vorwand beschafft sich das Team den Auftrag für den vermeintlich kriegswichtigen Propagandafilm «Lied der Freiheit». Er soll im abgelegenen Bergdorf Kastelau bei Berchtesgaden gedreht werden.
Die eigene Haut retten
Eine auserlesene Truppe macht sich auf den Weg, wird allerdings durch einen tragischen Unfall arg dezimiert. Aber aufgeben kommt nicht infrage, man arbeitet in kleinster Besetzung weiter, um seine eigene Haut zu retten.
Bereits in seinem 2011 erschienenen Roman «Gerron» hat sich Charles Lewinsky mit dem Propagandafilm während des Zweiten Weltkrieges auseinandergesetzt. Darin erzählte er vom Leben des Regisseurs Kurt Gerron, der von den Nazis gezwungen wurde, einen Film über ein Konzentrationslager zu drehen. Für «Kastelau» konnte der 68-jährige Autor dank der damaligen Recherchen aus dem Vollen schöpfen (siehe Interview).
Die Geschichte beginnt mit dem tragischen Tod des 49-jährigen US-amerikanischen Filmwissenschaftlers Samuel A. Saunders im Jahr 2011. Dieser hatte sich in den 80er-Jahren in seiner Dissertation intensiv mit dieser Crew und ihrem Filmprojekt von Kastelau auseinandergesetzt. Und in Interviews mit der einzigen noch lebenden Darstellerin Tiziana Adam einiges erfahren über jene Zeit in den Bergen: «Das war sehr viel interessanter als nur eine Chronologie der beim Zusammenbruch des Dritten Reichs nicht fertiggedrehten Filme und ihrer Mitarbeiter.» Adam erzählte ihm alles über die Arbeit der Filmtruppe, über den Alltag, die Menschen und die Geschehnisse im Dorf. Und über das Leben des US-Schauspielers und Oscar-Preisträgers Arnie Walton, 1914 als Walter Arnold Kreuzer in Deutschland geboren und in Kastelau mit dabei.
Die Arbeit des jungen Amerikaners Saunders förderte höchst brisante Details zutage, die ein schräges Licht auf den Star warfen. Walton hatte sich in seiner alten Heimat einiges zuschulden kommen lassen. Und wie die Interviews mit der grell-schrillen Tiziana Adam zeigten, war der ehrgeizige Walton fähig, über Leichen zu gehen…
Alle Register gezogen
Das ist kein Roman im üblichen Sinne, es ist vielmehr eine Komposition. Raffiniert setzt Lewinsky die hochdramatische und spannende historische Geschichte mit Manuskripten des Wissenschaftlers Samuel A. Saunders, mit Briefen, Notizen, Drehbuchauszügen oder Befragungsbogen der Dorfbevölkerung zu einem Roman zusammen. Als Auflockerung und als roter Faden der faktenreichen «Geschichtsschreibung» sorgt die Erzählung der Schauspielerin Adam aus den 80er-Jahren. «Zusammen ergeben sie eine Geschichte, deren Wahrheitsgehalt sich aus heutiger Sicht nicht überprüfen lässt», schreibt Autor Lewinsky am Anfang des Romans, um alles gleich wieder mit fiktiven Fussnoten und Quellenhinweisen zu widerlegen …
Der in Zürich und Frankreich lebende Charles Lewinsky hat in «Kastelau» alle Register seines Könnens gezogen. Ein fabelhaftes Werk eines geistreichen Autors. Und nicht verwunderlich: Kaum erschienen, steht es auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.
Charles Lewinsky
«Kastelau»
400 Seiten (Nagel & Kimche 2014).
SECHS FRAGEN AN CHARLES LEWINSKY
«Alle Autoren sind Lügner»
kulturtipp: Ein fantastisches Buch, das ich nach dem ersten Lesen gerne ein zweites Mal zur Hand genommen habe, um all die Fakten auf eine Reihe zu kriegen, und plötzlich voller Fragen war. Alles Märchen oder nicht?
Charles Lewinsky: Ja, die Geschichte und ihre Figuren sind von A bis Z erfunden. Wie ein chinesisches Sprichwort so schön sagt: «Alle Autoren sind Lügner.» Und hier hat es mir besonderen Spass gemacht, meine Erfindungen als Dokumente zu verkleiden und ihnen so eine falsche «Echtheit» zu verleihen. Weil wir ja alle dazu neigen, gerade diese Quelle für besonders glaubwürdig zu halten, habe ich sogar Wikipedia-Einträge gefälscht.
Arnie Walton, die Filmcrew, der Drehbuchautor, die im Anhang aufgeführten Filme jener Zeit – nichts, aber auch gar nichts ist wahr?
Nichts ist wahr – wie das in Romanen so üblich ist. Aber den historischen Hintergrund, in den diese Geschichte hineingemogelt ist, habe ich natürlich gründlich recherchiert.
Auf der Basis einer historischen Episode haben Sie eine endzeitlich-tragische Geschichte komponiert, heisst es auf dem Buchumschlag. Gehe ich da richtig in der Annahme, dass es sich bei dieser Episode um das Filmprojekt «Lied der Freiheit» handelt?
Nein, auch dieses Filmprojekt ist frei erfunden. Der kleine wahre Kern ist nur der Fakt, dass tatsächlich im letzten Kriegsjahr eine Ufa-Equipe in den bayerischen Alpen am Drehen eines Films war. Erich Kästner erwähnt das in seinem Tagebuch «Notabene 45», aber ich habe keine Ahnung, was für ein Film das war. – Aber nichts, ehrlich: Wirklich nichts, was da erzählt wird, hat eine historische Basis. Also ganz anders als in «Gerron», wo ich nur die Lücken in den historischen Berichten aus meiner Fantasie ergänzt habe.
Und was gab den Ausschlag zur Recherche?
Die Idee entstand gewissermassen als «Nebenprodukt» bei den Recherchen zu «Gerron», bei denen ich mich auch sehr viel mit der Ufa und ihren Produktionen befassen musste.
Was hat Sie dazu bewogen, den Roman in dieser Form zu komponieren? War da schon ein Drehbuch im Hinterkopf?
Gerade weil es eine erfundene Geschichte ist, erschien mir die pseudo-dokumentarische Form reizvoll. Sie macht auch handwerklich grossen Spass, weil man beim Schreiben immer wieder in andere Rollen und einen anderen Sprachstil schlüpfen darf.
Welche Figur im Roman hat Sie besonders in Beschlag genommen?
In diesem Fall ganz klar Tiziana Adam. Wann hat man sonst schon die Gelegenheit, die gleiche Figur gleichzeitig als junge Frau und alte Dame zu beschreiben?