«Den Abzug schön langsam und gleichmässig nach hinten ziehen, bis es knallt», ertönt die Stimme im Ohr. Der Zuschauer richtet den Blick konzentriert auf die Zielscheibe – und drückt ab. Zumindest gedanklich. Denn er befindet sich nicht etwa in einer Gefechtsausbildung, sondern im Stück «Situation Rooms» von Rimini Protokoll in der Kaserne Basel. Theater mitten aus dem Leben gegriffen – Realität pur.
Als Gegenentwurf zum klassischen Theater lassen sich Regisseure immer öfter ein interaktives Erlebnis einfallen. Statt dass die Schauspieler auf der Bühne eine fiktive Geschichte spielen, lösen sich die Grenzen zwischen Realität und Theaterfiktion, zwischen Schauspielern und Publikum auf. Die Gruppe Rimini Protokoll mit dem Schweizer Stefan Kaegi und den Deutschen Helgard Haug und Daniel Wetzel betreibt dieses Spiel mit der Realität in ihrem Dokumentartheater. Dafür hat Stefan Kaegi kürzlich den Grand Prix Theater erhalten, die renommierteste Auszeichnung der Schweizer Theaterszene.
Das Stück «Situation Rooms» sorgte bereits 2013 an der Ruhrtriennale in Bochum für Aufsehen und gastiert zurzeit in der Kaserne Basel. In diesem Multiplayer-Video-Stück setzen sich die Zuschauer hautnah mit den unterschiedlichen Aspekten der Waffenindustrie auseinander. Ausgestattet mit einem iPad und Kopfhörern begeben sie sich auf einen Parcours und schlüpfen in die Rollen von Akteuren des Kriegs – vom Waffenhändler bis zum Friedensaktivisten, von libyschen Bootsflüchtlingen bis zum Mitglied eines mexikanischen Drogenkartells.
Dem Stück vorausgegangen ist eine zweijährige Recherche von Rimini Protokoll. Das Theaterkollektiv hat 20 Menschen aus aller Welt interviewt, die in irgendeiner Form mit Waffen zu tun haben. Der Zuschauer hört ihre Lebensgeschichten über Kopfhörer, dazu benützt er Requisiten und interagiert mit den Mitspielern. Bühnenbildner Dominic Huber hat passend zu den Biografien 15 verschiedene Räume gestaltet. Sie bilden ein Gegenmodell zum «Situation Room» im Weissen Haus.
So setzt sich der Besucher an den Schreibtisch eines CEO aus der Rüstungsindustrie oder legt sich auf die Pritsche eines Lazaretts, während auf dem Bildschirm ein verwundeter Demonstrant im syrischen Homs aufflackert. Die Besucher zielen auf eine Scheibe im Schiesskeller des Schützenvereins oder gehen mit einem Drohnen-Lenker vor jenen Bildschirm, wo auf Knopfdruck Leben ausgelöscht werden. Der Mann zeigt sich abgebrüht: «Wenn ich anfange, darüber nachzudenken, ob der Typ vielleicht unschuldig ist oder ob da möglicherweise Frauen und Kinder drin sind, kann ich nicht kämpfen und siegen! Für uns ist es ganz einfach: lokalisieren – feuern – vergessen!» Auch die Männer im Hintergrund klingen nicht minder abgestumpft. So lässt etwa ein Schweizer Manager eines Rüstungskonzerns verlauten: «Ob sie Werkzeugmaschinen oder Waffensysteme herstellen, spielt keine Rolle. Für unsere Mitarbeiter stehen die technische Herausforderung und der sichere Arbeitsplatz im Vordergrund.»
Durch verwinkelte Gänge wird der Zuschauer von einer Welt in die nächste gelotst, die Wechsel erfolgen in raschem Tempo. Hat man soeben noch mit einem ehemaligen Kindersoldaten aus dem Kongo die Fahne heruntergezogen, legt man im nächsten Moment zusammen mit einem Hacker einen Schalter um. Und so werden nach und nach die komplexen Verstrickungen der Kriegsindustrie deutlich.
Situation Rooms
Mi, 16.9.–So, 27.9. Mehrmals täglich, Kaserne Basel
www.kaserne-basel.ch
www.rimini-protokoll.de
6 Fragen an Stefan Kaegi von Rimini Protokoll
«Der Besucher steht wie der Soldat unter Handlungsdruck»
kulturtipp: Was kann das interaktive Dokumentartheater von Rimini Protokoll dem Publikum mitgeben, was das klassische Theater nicht kann?
Stefan Kaegi: Die Besucher können Erfahrungen machen, die sich eher einprägen, als wenn man nur zuschaut. Im neuen Projekt «Hausbesuch Europa» sitzen die Zuschauer um einen Tisch bei Leuten daheim und steuern inhaltlich etwas bei. Bei «Situation Rooms» steht das Publikum den Akteuren der Waffenindustrie zwar nicht gegenüber, aber schlüpft in ihre Rolle und setzt sich so unmittelbar mit ihren Räumen und Geschichten auseinander.
Bilden Sie Wirklichkeit auf der Bühne ab?
Wir versuchen, der Wirklichkeit näher zu kommen. Es sind hier ja 15 verschiedene «Situation Rooms», in denen man sich bewegt, nicht nur einer. Diese prallen aufeinander, reiben sich. Natürlich sind es vereinfachte Modelle, künstlich gebaute Räume, aber sie haben ein reales Vorbild. Es ist zwar eine Spielanordnung, aber die Geschichten sind echt.
Besteht beim interaktiven Theater nicht die Gefahr, dass sich der Besucher zu sehr aufs Ausführen der Theateranweisungen konzentriert und dabei die Reflexion zum Thema in den Hintergrund rückt?
Gerade «Situation Rooms» ist ein Stück, das dem Besucher im Nachhinein nahegeht. Die Eindrücke, die er mitnimmt, ordnet er oft erst später ein. Und es geht bei diesem Stück auch darum, dass der Besucher unter Druck gerät, zu handeln – vielleicht, ohne fertig reflektiert zu haben, was man da genau macht. Das ist genau die Situation, in der sich der Politiker, der Lieferant oder der Soldat befindet. Sie stehen ebenfalls unter Handlungsdruck.
Jeder Theaterrundgang verläuft anders. Gab es auch schon unerwartete Reaktionen des Publikums?
Die meisten sind gepackt vom Geschehen. Man ist im 7-Minuten-Takt stark hin- und hergeworfen, die Perspektive wechselt ständig. Es gibt Leute, die mit einem gewissen Betroffenheitsgefühl kommen und dann überrascht sind, dass es doch nicht so einfach ist, Waffenlieferungen grundsätzlich zu verurteilen, dass es durchaus nachvollziehbare Argumente gibt. Etwa wenn der syrische Flüchtling sagt: «Nur Waffen können unsere Kinder gegen den Terror des syrischen Regimes verteidigen.»
Zum Teil verunsichern Sie den Besucher. Was wollen Sie beim Publikum auslösen?
Man soll sich die vielseitigen Argumentationen anhören und sich damit auseinandersetzen. Manchmal hat man in Europa das Gefühl, dass das, was da drüben passiert, nichts mit uns zu tun hat. Am Schluss wird klar, dass alles eng ineinander verzahnt ist. Dass etwa Zürich Oerlikon eine direkte Verbindung zum Mittleren Osten hat.
Wie haben Sie für dieses Stück recherchiert? Und wie haben Sie die Gesprächspartner zum Reden gebracht?
Das war ein aufwendiger Castingprozess. Natürlich ist es leichter gewesen, Leute zu finden, die auf der Pazifisten-Seite stehen. Es sollten aber auch Leute zu Wort kommen, die eine andere Position haben. Menschen, die in der deutschen Rüstungsindustrie arbeiten, haben stark vermittelt bekommen, dass sie nicht darüber sprechen sollen. Diese haben wir über verschiedene Kontakte trotzdem gefunden. Es gab natürlich Dinge, die sie nicht sagen wollten, aber zwischen den Zeilen schimmern auch Geheimnisse durch. Ein Glücksgriff war der Informant aus dem mexikanischen Drogenkartell, der uns aus nächster Nähe berichten konnte. Bei manchen Akteuren mussten wir natürlich Decknamen verwenden.