«Freudelager» steht für Konzentrationslager. Oder «Minipax» ist das Kriegsministerium. Das sind Wörter aus der Kunstsprache des anonymen Diktators «Grosser Bruder», in der sich seine unterdrückten Bürger im Roman «1984» verständigen müssen. «Neusprech» geht bis ins Persönliche: Mit «Gutsex» ist die Fortpflanzung gemeint. Unter «Sexdel» fallen Unzucht, Ehebruch oder Homosexualität.
Der Protagonist Winston Smith zettelt zwar eine Verschwörung an. Doch sein Widerstand endet nach einer Gehirnwäsche mit den berühmten Worten: «Er hatte sich selbst überwunden. Er liebte den Grossen Bruder.» Der fiktive Staat schafft es sogar, dass sich Winston Smith seiner grossen Liebschaft entfremdet. Denn Gefühle sind subversiv.
Düstere Vision
«Der Grosse Bruder erfüllt die Funktion einer Sammellinse für Liebe, Furcht und Verehrung . . .» Mit diesen Worten beschrieb der englische Schriftsteller George Orwell den unbekannten «Grossen Bruder» in seinem Roman «1984» im Jahr 1948. Orwell zeichnete das Bild eines apokalyptischen Überwachungsstaats, der das Denken aller Untertanen kontrollierte. Seither gehört «1984» zum Kanon der Weltliteratur, ist Pflichtlektüre an Schulen. Der Begriff «Big Brother» dient heute regelmässig als Metapher in kulturpolitischen Debatten oder beim Reality-TV mit angeblich eingeschlossenen Teilnehmern.
Orwell schrieb diese düstere Vision eines omnipräsenten Unterdrückungsstaats jedoch, als Nazi-Deutschland eben erst untergegangen war und sich der Kalte Krieg zusehends erhitzte. Die aktuelle deutsche Heyne-Ausgabe von «1984» illustriert dies auf dem Cover mit dem fingierten Porträt eines Mannes, der Hitlers und Stalins Züge trägt.
Doch im Lauf der Jahre hat sich der Begriff immer mehr von «1984» entfernt und gilt heute als Umschreibung der Datenerfassung schlechthin – der rechtmässigen wie der unrechtmässigen. Bei «Big Brother» denkt heute kaum mehr jemand an das Nazi-Regime oder den Stalinismus, wie das Orwell in der unmittelbaren Nachkriegszeit getan hat.
Politisches Schreiben
Im Jahr 1948 wurde «1984» jedoch als eine Weiterentwicklung seines Romans «Animal Farm» verstanden, der kurz zuvor erschienen war. Darin veranschaulichte der Sozialist Orwell die Perversion des frühen Sowjetstaates nach der Revolution. «Der Horror liest sich hier als Komödie. Aber in ‹1984› betrifft uns der Horror unvermittelt», schrieb das «Times Literary Supplement», nachdem das Buch erschienen war. Orwell verstand sich nicht als Prophet. Er sah vielmehr das «politische Schreiben als eine Kunst», die den Leser packt.
Der Schriftsteller Julian Barnes bringt den politischen Orwell auf den Punkt: «Er verabscheute das Empire, das freut die Linke. Er verabscheute den Kommunismus, das freut die Rechte.» Barnes ordnet Orwell den Status eines britischen «Nationaldenkmals» zu wie William Shakespeare und Charles Dickens. Orwell selbst charakterisierte sich politisch laut seinem Biografen Bernard Crick als einen «Tory anarchist». «Seine politischen Ansichten waren links, aber seine Vorurteile sehr konservativ», konstatierte Biograf Crick. Rolf Hürzeler
George Orwell
«1984»
400 Seiten
Deutsche
Erstausgabe: 1950
Heute erhätlich im Heyne Verlag.