Leere, nichts als Leere. «Sie hört nicht zu. Die Worte sind nur ein Gebrabbel, klingen wie das traurige Gewinsel eines Hundes in der Ferne.» Mary Louise Elmer, geborene Dallon, ist Patientin einer Klinik und dämmert seit Jahren vor sich ihn, zerbrochen an den gesellschaftlichen Zwängen der 50er-Jahre in der irischen Provinz. Der 87-jährige irische Schriftsteller William Trevor beschreibt, wie Mary Louise in diesen Zustand der Hoffnungslosigkeit geraten ist. Er verwebt in seinem Roman «Turgenjews Schatten» die Zeitebenen; Vergangenheit und Gegenwart der Protagonistin sind dem Leser von Beginn an präsent.
Kleinbürgerliches Milieu
Der deutsche Taschenbuch Verlag hat das 1991 erschienene Buch nun neu aufgelegt. Trevor ist einer der Stillen im Literaturbetrieb und wird deshalb auf dem Kontinent zu wenig wahrgenommen. Er schreibt über den Alltag von meist kleinbürgerlichen Menschen, die mit den Anfeindungen in einer seelenlosen Gesellschaft nicht zurechtkommen. Dabei fliessen die grossen irischen Themen wie beiläufig ein, sei es die gewalttätige Vergangenheit mit Grossbritannien oder der konfessionelle Zwist zwischen Katholiken und Protestanten. Mary Louise etwa lebt in «Turgenjews Schatten» im bescheidenen reformierten Milieu und steht damit bereits am Rand der Gesellschaft.
Heimliche Treffen
Die Geschichte beginnt harmlos: Die nicht mehr ganz junge Mary Louise Dallon sieht die Chance, ihrem bäuerlichen Milieu zu entkommen. Nach anfänglichem Zögern gibt sie den halbherzigen Avancen des fülligen und wesentlich älteren Elmer Quarry nach, dem scheinbar finanziell gut gestellten Besitzer eines Textilgeschäfts, das er mit seinen beiden intriganten Schwestern führt. Mary Louise gerät in eine lieblose Konstellation. Ihrem impotenten Mann ist sie gleichgültig, seine Schwestern wünschen sie zum Teufel. Erst in der Wiederbegegnung mit ihrem behinderten Cousin Robert findet sie Erfüllung und Anerkennung. Die beiden treffen sich heimlich auf einem Friedhof, er macht die unbelesene junge Frau mit den Werken des russischen Schriftstellers Ivan Turgenjew vertraut, jenes Romanciers des vorletzten Jahrhunderts, der sich wie Trevor den alltäglichen menschlichen Dramen angenommen hatte. Diese Gottesacker-Treffen verlaufen vertraulich und doch gehemmt, Mary Louise leidet selbst hier unter ihrer Unerfahrenheit: «Sie wollte sagen, dass sie befürchtet hatte, ihre Unwissenheit in allem, was ihm gefiel, würde ihn langweilen, doch sie brachte nicht den Mut dazu auf.» Sprachlosigkeit ist das immer wiederkehrende Motiv dieses Romans.
Bitteres Ende
Robert stirbt unerwartet. Im zweiten Teil führt Autor Trevor Mary Louise zielstrebig ins Elend – bis zum bitteren Ende im Heim, und auch das bietet keine wirkliche Sicherheit. William Trevor schreibt eine klare, kurz gehaltene Prosa, einzelne Kapitel erscheinen episodenhaft, wie kurze Filmszenen. Seine Charaktere entwickeln sich langsam, dafür aber immer nachvollziehbar für den Leser. «Turgenjews Schatten» ist ein feinfühlig geschriebenes Buch, das die bitteren Nachkriegsjahre in der irischen Republik heute nachvollziehbar macht. Und das belegt, wie schmerzvoll die kleinen Dramen im Leben sein können. Oder wie der Literaturkritiker Rainer Moritz im Nachwort schreibt: «Verlorene Existenzen mitfühlend zu beschreiben und keine falsche Sentimentalität aufkommen zu lassen, das ist die grosse Kunst des Erzählers und Stilisten William Trevor.»
William Trevor
«Turgenjews Schatten»
Deutsche Erstausgabe: 1993
Heute erhältlich bei dtv.