«Nun ist er tot, nun hält er endlich mal die Klappe …» Herzlos erscheint diese Reaktion des Protagonisten Jan Panowski auf den Tod seines eineiigen Zwillingsbruders David. Wie es zu solch einer Abstumpfung kam, erzählt der in Zürich und Bremen lebende Autor Jürg Beeler in seinem sechsten Roman.
Die Brüder wachsen in einem lieblosen Umfeld auf. Während David das Leben trotzdem von der leichten Seite nimmt, ist sein Bruder Jan der schwermütige. Nach gemeinsamen Studienjahren baut sich Jan in Paris ein eigenes Leben auf, lernt die Balletttänzerin Raymonde kennen und lieben. Doch dann besucht ihn David und macht sein kurzes Glück zunichte: «Er ruhte nicht eher, bis mein Paris seins wurde, bis meine Gegenwart ein Handschuh war, den er sich bequem überstreifen konnte.»
Zerstörte Liebe
Es kommt, wie es kommen muss: Raymonde verliebt sich in den Zwillingsbruder, die lebenslustigere Version von Jan. Dieser verlässt tief gekränkt Paris, um fortan zurückgezogen in einer Bibliothek zu arbeiten. Als diese vollständig abbrennt, wird er noch menschenscheuer, und längst verstorbene Schriftsteller werden zu seinen liebsten Gesprächspartnern.
30 Jahre später erfährt er vom Tod seines Bruders, der inzwischen ein berühmter Autor geworden ist. Zuerst verspürt Jan Erleichterung – Erleichterung darüber, dass er seinen stets präsenten Bruder losgeworden ist. Doch dann merkt er, dass er auch nach dem Tod auf Gedeih und Verderben mit ihm verbunden ist, wie in einem «verhängnisvollen Stromnetz». Jan reist nach Paris. Der Beerdigung will er fernbleiben, aber er hat die Hoffnung, dass er seine geliebte Stadt zurückerobern kann. Doch es wird eine Reise in die Vergangenheit, die alte Schuldgefühle hochkommen lässt.
Leichtfüssige Lektüre
Der 56-jährige Zürcher Jürg Beeler beschreibt die Rivalität zwischen den Zwillingsbrüdern aus der Perspektive des Benachteiligten. In bildhafter Sprache macht er dessen Hilflosigkeit und Wut angesichts des erfolgreicheren Bruders spürbar. Dazu wählt er in vielen Passagen einen literarischen Kniff, der auch auf den etwas umständlichen Buchtitel verweist: Im französischen Schriftsteller Honoré de Balzac findet Jan einen «Gesprächspartner» aus dem 19. Jahrhundert, dem er sich anvertrauen kann.
Beelers Roman lebt aber auch vom Humor und von trefflichen Beschreibungen: Eine Stimme «rauh wie eine ungepflasterte Landstrasse», «fleischige Ohrläppchen», die wie «Fischköder» unter dem Haarschopf hervorschauen… Leiser Sprachwitz und eine sorgfältig durchkomponierte, fesselnde Geschichte machen Beelers Roman trotz des schweren Themas zu einer leichtfüssigen Lektüre mit Pariser Flair. Babina Cathomen
Buchvernissage
Mi, 5.3., 19.30
Buchhandlung Sphères Zürich
Jürg Beeler
«Der Mann, der
Balzacs Romane schrieb»
208 Seiten
(Dörlemann 2014).
Drei Fragen an Jürg Beeler
Geschichte zwischen Dichtung und Wahrheit – im Sinne Balzacs
kulturtipp: Ihr neuer Roman lebt vom Pariser Flair. Wo ist er entstanden?
Jürg Beeler: Ich schreibe noch von Hand und in Cafés. Entstanden ist der Roman in meinen Stammcafés in Berlin und Paris. Paris ist Teil meines Lebens, mit der Stadt verbinden mich auch sehr intensive und schmerzliche Erinnerungen, die in indirekter Form in meinem Roman spürbar sind.
Wie kams zum Thema der Zwillingsrivalität?
Die Thematik überraschte mich selber während des Schreibens und begann mich immer mehr zu faszinieren. Was passiert, wenn eineiige Zwillinge sich verkrachen? Was ist ein eigenes Leben, was ist Glück? Die Zwillingsthematik liess mich diesen Fragen nachgehen und die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies neu erzählen.
Vom Innenleben der Hauptfigur Jan erfährt der Leser auch über die Gespräche mit Balzac.
Warum haben Sie diese Dialogform gewählt?
Mit dem dialogischen Moment stellte sich beim Schreiben wie von selbst ein eigener Sprachrhythmus ein. Jan Panowski erzählt Monsieur Balzac seine eigene Geschichte, dabei nimmt diese «Geschichte»
die Form einer Erzählung an, sie schwebt im Sinne Balzacs zwischen Dichtung und Wahrheit. Dialoge sind ja oft nichts anderes als Monologe – aus einer Verzweiflung und einer Sehnsucht geführt. Honoré de Balzac war ein brillanter und gewitzter Unterhalter. Und es war für mich eine inspirierende Herausforderung, in meinem Roman eine Figur zu schaffen, die auch etwas von diesen balzacschen Eigenschaften hat.