Die grotesken Bestrebungen der Menschen nach dem Glück, kurz, die Lächerlichkeit des menschlichen Daseins an sich: Das war schon immer Sibylle Bergs Lieblingsthema, das sie in ihren Büchern gnadenlos ausleuchtet. Das kommt meist urkomisch daher und gleichzeitig ungemein brutal. Ihre Welt ist keine, in der man leben möchte – und doch erkennt man sie in überspitzter Form wieder. Mit schmerzhaftem Witz leuchtet sie die menschlichen Begierden und unerfüllten Sehnsüchte aus.
Flucht in eine Affäre
Im neuen Roman stellt sie ein Paar mittleren Alters ins Zentrum: verheiratet seit 20 Jahren, vollständig vertraut miteinander, fast symbiotisch und gleichzeitig unendlich gelangweilt, resigniert und panisch im Hinblick aufs unausweichliche Altern. Solls das schon gewesen sein? Diese Frage beschäftigt insgeheim beide. Rasmus ist ein verbitterter Regisseur, der es nie in den Theaterolymp geschafft hat. Seine Frau Chloe ist ihm stets treusorgend zur Seite gestanden, hat ihn über seine Misserfolge hinweggetröstet und dabei ihre eigenen Wünsche vergessen. «Ich gebe Rasmus das Gefühl, wichtig zu sein, überlegen, damit ich faul bleiben kann. Das ist der Deal», sagt sie.
Beide sind sexuell frustriert – seit langem. «Vermutlich schliesst eine Behaglichkeit Ekstase aus», konstatiert Chloe nüchtern. Und so stürzt sie sich in einem sogenannten Drittweltland, wo ihr Mann sich erfolglos an einem Theaterprojekt versucht, in ein Liebesabenteuer mit einem Masseur aus einem schäbigen Salon. Und siehe da: Sie hat den besten Sex ihres Lebens, verfällt ihrem jüngeren Lover mit Haut und Haaren und kann an nichts anderes mehr denken. Schon gar nicht an ihren leidenden Gatten, der die Affäre mit Entsetzen zur Kenntnis nimmt. Chloe geht sogar so weit, ihren rothaarigen Liebhaber, mit dem sie noch fast kein Wort gewechselt hat, nach der Rückkehr in der gemeinsamen Wohnung einzuquartieren. Wie Rasmus damit umgeht, ist ihr herzlich egal, Schuldgefühle stellen sich erst später ein.
Desillusioniertes Paar
Die Dreier-WG der etwas anderen Art läuft bald aus dem Ruder: Der Hormonrausch hat alle erfasst – sich jung fühlen, ein letztes Mal, das ist die Devise. «Wir wollen noch einmal brennen, noch einmal fliegen.» Oder, vulgärer ausgedrückt: «Wir wollen ficken, weil wir nicht sterben wollen.»
Sibylle Berg nennt die Dinge beim Namen. Hinter expliziten Szenen verbergen sich aber grundlegende Fragen nach der Liebe, nach dem Leben, nach dem Tod – und nach dem Stellenwert von Sexualität und Leidenschaft in einer Beziehung.
Die 52-jährige Autorin aus der ehemaligen DDR, die seit langem in Zürich ihre spitze Feder führt, behandelt diese Fragen aus Frauen- und aus Männersicht: Chloe und Rasmus kommen abwechselnd zum Zug – schmeichelhaft wird das freilich für keine Seite. Berg spart nicht mit zynischen Kommentaren zum Leben der gut situierten Intellektuellen in ihren durchdesignten Sichtbeton-Wohnungen in kühlem Weiss: Sie wähnen sich tolerant und bleiben doch in ihrem eigenen verknöcherten Denken verhaftet. Sibylle Berg ist knallhart, desillusionierend durch und durch. Nachdem der Liebhaber auf den letzten Seiten ein einziges Mal selbst zu Wort gekommen ist, wartet ein Happy End à la Sibylle Berg – und das verheisst, man ahnt es, nichts Gutes.
Buch
Sibylle Berg
«Der Tag, als meine Frau einen Mann fand»
256 Seiten
(Hanser 2015).
Lesungen
Sibylle Berg hebt ihr Buch mit Kabarettist Patrick Frey und Musiker Fai Baba aus der Taufe
Di, 10.3., 20.00 Kaufleuten Zürich
Mi, 11.3., 20.00 Kaserne Basel