Den ganzen Tag über ist es still im Gebäude der Verwaltung. Nicht einmal den eigenen Schritt kann man hören – sein Geräusch verschluckt der Teppich, der keine Farbe hat, zumindest keine, für die es einen Namen gäbe, und auf dem jeder Tritt einen Tapfen hinterlässt, der in die unsichtbare Datenbank des Teppichs eingeht.
Im Gebäude der Verwaltung sind die Türen verschlossen, auch diejenigen, die aus Glas sind. Blickt man durch eine gläserne Tür, lassen sich dahinter weitere gläserne Türen ausmachen und ganz zuhinterst ein kleines Fenster, von dem man Aussicht auf den Parkplatz hätte, stünde man direkt davor. Auf der gläsernen Tür ganz zuhinterst steht in weissen Buchstaben das Wort: WARTEN.
Ich war schon öfter da, aber ich gewöhne mich nicht an das Gebäude – schwer vorstellbar, dass sich überhaupt jemand daran gewöhnen könnte. Immer wenn ich es betrete, beginnt etwas in mir drin, traurig jenes Lied zu singen, vom Mann der sich in den Gängen des Amtes verirrt und nie mehr zurückkommt. Allerdings hat das Gebäude der Verwaltung zumindest mich bisher zuverlässig und spätestens um 18 Uhr ausgespien. Zum Glück, denn die Vorstellung, dort nachts alleine eingesperrt zu sein, zusammen mit den Geistern all jener Unseligen, deren Wünsche und Hoffnungen in den Mühlen der Bürokratie zermalmt wurden, ist angsteinflössend.
Das Gebäude ist älter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, aber doch nicht so alt, wie es die Holztäfelung im Sitzungszimmer 248 gern glauben machen möchte. Im Zimmer 248 reden wir über Spitalersatzneubauten oder Erbschaftsinventare, je nachdem. Die Luft ist immer arm an Sauerstoff, gelegentlich nickt jemand kurz ein, aber es käme niemandem in den Sinn, das Fenster zu öffnen. Grund ist der Lärm von der angrenzenden Durchgangsstrasse, verstärkt durch die Lage im engen, von Felswänden gesäumten Tal, der die Tonaufzeichnung fürs Protokoll bis zur Unverständlichkeit zerhacken würde. Der weisse Tisch ist langgezogen und elliptisch, wie es zuweilen auch die Gespräche sind.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges befindet sich die Abteilung für Volkswirtschaft. Im Büro, das einem leer geräumten Schulzimmer ähnelt, studierte ich einmal Akten über die kantonale Tourismusorganisation, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden können, heisst es – aus welchen Gründen genau, habe ich nie in Erfahrung gebracht. Es geschah unter der Aufsicht des zuständigen Departementssekretärs, einmal verliess er den Raum kurz und ich erwog, die vorliegenden Dokumente zu fotografieren, liess es dann jedoch bleiben, in Aussicht darauf, dass er mich im Zuge einer jähen Rückkehr auf frischer Tat ertappen könnte. An die karg weissen Wände hatte er gerahmte Kinderzeichnungen gehängt, was wohl für Aufheiterung der Atmosphäre sorgen sollte, diesen Zweck, so finde ich, jedoch nicht zu erfüllen vermag.
Für einen seltenen Moment der Heiterkeit in all den Stunden, die ich im Gebäude verbracht habe, sorgte kürzlich der Chef der Abteilung für Volkswirtschaft – eine, unterschiedliche Auffassungen über seine Amtsführung oder Parteizugehörigkeit ausgeklammert, überaus liebenswerte Person von jovialem Wesen und kleinem Wuchs –, als er, auf der Raucherterrasse im Innenhof, mangels Aschenbecher wortwörtlich zum Littering aufrief und seine Zigarettenkippe, unter mehrmaliger Aufforderung, es ihm gleichzutun, durch das Bodengitter versenkte. Eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lässt, allzu oft kommt es nicht vor, dass ein Exekutivmitglied sich derart nonkonformistisch gibt. Für gewöhnlich läuft alles nach Plan und Recht und Ordnung, im Gebäude der Verwaltung.
Zum ersten Mal betrat ich das Gebäude, als ich Papiere benötigte, die mich zur Einreise in Übersee ermächtigten. Ein Termin war vorgängig zu beantragen, die Gebühr von 158 Franken inklusive Porto in bar mitzubringen. Ich presste meine Fingerkuppen auf das grün leuchtende Display und rückte meinen Kopf im dafür vorgesehenen Oval zurecht. Es ging zügig, bald schon lag der rote Pass inklusive biometrischer Daten in meinem Briefkasten. Dies allerdings nur dank dem glücklichen Umstand, dass bereits mein Vater einen roten Pass besitzt – ansonsten dauert es bekanntlich wesentlich länger oder ist ohnehin nicht möglich.
Als ich das Gebäude der Verwaltung zum ersten Mal verliess, sah ich Menschen, ganz hinten, im Raum, dessen Tür die weisse Aufschrift WARTEN trägt. Ich weiss nicht, ob sie noch immer warten, oder wenn nicht, wie es für sie ausging. Ich weiss nur, dass ich es abstossend finde, dass in den Verwaltungen dieses Landes Menschen hinter gläsernen Türen vergeblich darauf warten, eingelassen zu werden – ganz nach Plan und Recht und Ordnung. Das Gebäude der Verwaltung kann für all dies nichts. Trotzdem ist es mir fremder und unheimlicher, als es ein Mensch jedwelcher Herkunft jemals sein könnte.
Susi Stühlinger, geboren 1985, ist Journalistin und Autorin. Sie lebt in Schaffhausen, liebt kochen und gärtnern und kennt das Sitzungszimmer 248 dank ihrer Wahl in den Schaffhauser Kantonsrat vor eineinhalb Jahren.