Der Wagen des Eurocity-Zuges war gut besetzt. In Mainz stiegen neue Reisende zu, auch ein dunkelhaariges Paar, das schräg gegenüber von mir Platz nahm. Mein Blick wanderte vom Buch, das auf meinen Knien lag, zur Landschaft vor dem Fenster: Felder, putzige alte Städtchen, und der Rhein, der sich malerisch zwischen Anhöhen dahinwand. Doch immer wieder hefteten sich meine Augen auf das Paar. Genauer auf das Gesicht der Frau. Sie war jung, hatte feine Züge und mandelförmige Augen. Und weinte lautlos. Der Mann neben ihr hielt ihre Hand, als könnte er sie damit trösten. Syrische Flüchtlinge? Hatten sie ihre Liebsten zurücklassen müssen? Ich las und schaute von Zeit zu Zeit verstohlen zur Frau. Sie weinte noch immer, während draussen russische Saatkrähen über den Uferbäumen kreisten. Irgendwann wandte sie sich zum Mann, flüsterte ihm halblaut etwas zu. Worauf er in die grosse Tasche zwischen seinen Beinen griff und einen Schokoriegel hervorholte. Sorgfältig entfernte er das Papier und reichte ihr den Riegel. Sie biss hinein, kaute langsam wie ein müdes Kind. Bis die Tränen versiegten. Doch die Traurigkeit in ihren Augen verflog nicht. Noch nie hatte ich so traurige Augen gesehen.
Die Rheinburgen und -schlösser vermochten mich nicht abzulenken. Auch die Frau interessierte sich nicht dafür. Nachdem sie den Schokoriegel aufgegessen hatte, wechselte sie ein paar Sätze mit dem Mann. Jetzt hörte ich, dass sie Arabisch sprachen. Besondere Merkmale? Keine. Unauffällige Kleidung, kein Kopftuch, diskretes Benehmen. Alter? Um die dreissig. Die Deutsche, die ihnen direkt gegenübersass, wirkte in ihrer Körperfülle unendlich robust und schien gar nicht wahrzunehmen, was sich abspielte. Als wäre sie undurchlässig oder heroisch gleichgültig. Meine Fantasie aber war längst in Fahrt. Woher kamen die beiden, wohin ging die Reise? Einen Koffer hatten sie nicht dabei, nur diese grosse karierte Tasche.
Auf halber Strecke zwischen Mainz und Koblenz erschien der Schaffner. Kontrollierte auch die Fahrkarten des Paars und runzelte die Stirn. «Diese Tickets gelten nicht für Expresszüge, Sie müssen einen Aufpreis bezahlen oder in Koblenz aussteigen.» Die beiden verstanden kein Wort, blickten nur verängstigt. Ich intervenierte auf Englisch, doch auch mit Englisch taten sie sich schwer. Die Frau sprach es etwas besser, wurde vor Erschrockenheit sogar lebhaft. «How much?», wollte sie wissen, wie viel der Aufpreis koste. Dazu hätte der Schaffner wissen müssen, wo sie hinwollten. Das Fahrziel stand nicht auf den Tickets. Sie murmelten etwas, was nach Duisburg oder Hamburg klang. Ein gewaltiger Unterschied. Schliesslich zückte der Mann sein Handy und verschwand mit dem Schaffner im nächsten Wagen. Die Frau wartete. Wartete fünf, wartete zehn Minuten. Allein. Ich wurde nervös, als steckte ich in ihrer Haut. Unablässig schaute sie zur Tür oder liess den Blick flüchtig rheinwärts schweifen. Endlich tauchte der Mann mit dem Schaffner auf, sichtlich erleichtert. Die Reise ging, wie der Anruf ergeben hatte, nach Duisburg. Und der Aufpreis war bezahlbar: 30 Euro. So erzählte es mir der Mann stockend, nachdem ich ihm angeboten hatte zu helfen. Denn die Vorstellung, die beiden müssten aussteigen und mit Bummelzügen ihr Ziel erreichen, erschien mir unzumutbar. Unzumutbar für die müde, traurige Frau, die sich nach Geborgenheit sehnte, nicht nach zugigen Bahnhöfen. Ich kam mit ihr ins Gespräch. Sie sagte, sie fahren zu ihrem Onkel, «uncle». Den Namen der Stadt konnte sie nicht aussprechen, doch ich wusste ihn schon. Sie rang sich zu einem Lächeln durch, vielleicht aus Dankbarkeit. Dann liess sie sich ermattet ins Polster sinken.
Ich fragte nicht, aus welchem Land sie kamen, es wäre mir zu aufdringlich erschienen. Für mich waren sie Syrer, glücklich oder unglücklich Gestrandete, das würde sich zeigen. Unterwegs zu einem Onkel, an einem kalten Sonntag im Januar.
Wie oft hatte ich mich selber nach Syrien gesehnt. In die Omaijaden-Moschee und den Basar von Aleppo, nach Palmyra und in frühchristliche Klöster, in schattige Damaszener Innenhöfe mit Cafés, wo zum Tee feinstes orientalisches Gebäck serviert wird. Von Beirut aus hätte ich es vor Jahren schaffen können, nur meine Zeitplanung liess es nicht zu. Dann wartete ich vergeblich auf eine Einladung des syrischen Verlags, der eines meiner Bücher auf Arabisch veröffentlicht hatte. Und nun war es für immer zu spät. Das Land zerbombt, die Bevölkerung dezimiert. Wer kann, flieht nach Europa. Unter eine andere Sonne, in eine andere Welt.
Ja, sie sahen ratlos und entwurzelt aus, die beiden. Er hielt wieder ihre Hand. Und sie schaute blicklos in ein Nirgendwo. Gab es nichts, was sie lockte? Oder lag alles Ersehnte in der Vergangenheit? Zwar mochte der Onkel ein Rettungsanker im Meer des Unbekannten sein. Doch eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
Als ich in Köln ausstieg, wünschte ich ihnen eine gute Weiterreise. Am liebsten hätte ich der Frau süssen Schlaf gewünscht. Denn sie brauchte ihn dringend, um zu träumen und zu vergessen. Um Kräfte zu sammeln für diese und viele andere Reisen. Bye-bye! Lange winkten wir uns zu.
Ilma Rakusa
Die in Zürich lebende Autorin Ilma Rakusa stammt aus der Slowakei. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten,
2009 etwa den Schweizer Buchpreis. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ist sie Übersetzerin
und Lehrbeauftragte an der Universität Zürich.
www.ilmarakusa.info