Wie anfangen, wenn einem die Worte im Hals stecken bleiben, vor Fassungslosigkeit, Entsetzen, Trauer. Schon fast drei Wochen dauert Putins Angriffskrieg auf die Ukraine, und er wird mit jedem Tag, an dem die Ukrainer wehrhaft Widerstand leisten, grausamer. Die sogenannte «militärische Spezialoperation», als Blitzkrieg zur «Entnazifizierung» und «Entmilitarisierung» der Ukraine geplant, wird sich hinziehen, wird zahllose Opfer fordern und verheerende Zerstörungen anrichten, ohne dass der Kremlherrscher sein Ziel erreichen wird. Er unterschätzt den Kampfgeist des ukrainischen Brudervolks, das sich bewusst nach Westen orientiert, statt sich einem diktatorischen Regime zu beugen. Das imperiale Modell verfängt in der Ukraine nicht, das hat sie in den Maidan-Aufständen zur Genüge bewiesen. Nun wird sie alles tun, um Demokratie, Freiheitsrechte und ihre Selbständigkeit zu verteidigen. Die Frage ist nur, um welchen Preis.
Schon jetzt schreckt die russische Armee nicht vor Artillerieangriffen auf Wohngebiete, Schulen, Spitäler zurück, Zivilisten sind die Leidtragenden, und der Strom der Flüchtlinge ebbt nicht ab. Über zwei Millionen sind es bereits, man rechnet in Kürze mit fünf Millionen. Frauen und Kinder, die Männer bleiben im Land, um zu kämpfen. Keine Familie weiss, ob sie je wieder zusammenkommt. Die Bilder sind herzzerreissend. Ein robuster Mittvierziger steht auf dem Bahnsteig, in der Hand ein Spielzeugauto, das ihm sein wegfahrender Sohn zum Abschied in die Hand gedrückt hat, und lässt seinen Tränen freien Lauf. Kann das Schicksal so hart zuschlagen? Ja, es kann, wenn ein Autokrat 200 000 Soldaten befiehlt, einen unabhängigen Staat zu besetzen und in die Knie zu zwingen. Doch so leicht wird das nicht gehen. Sogar Studenten, die von der Wehrpflicht ausgenommen sind, melden sich freiwillig zur «Territorialen Verteidigung». Mit einer gelben Binde am Arm signalisieren sie ihre Bereitschaft, für ihre Heimat zu kämpfen. Nicht ausgeschlossen, dass sie mit 19 oder 20 Jahren zum Kanonenfutter werden. Eine entsetzliche Vorstellung, doch leider sehr realistisch.
Ich frage meine Lemberger Freundin, die mein Erinnerungsbuch «Mehr Meer» ins Ukrainische übersetzt hat, was mit ihrem Sohn ist. Sie antwortet nicht. Ihre letzte Mail brach beim Wort Sirenenalarm ab. Seither weiss ich nichts mehr von ihr. Im September 2015 schlenderten wir zusammen durch die Altstadt von Lwiw, durch das armenische Viertel und das ehemalige Ghetto, vorbei an orthodoxen und katholischen Kirchen und an Mauern mit Fotografien im Donbass gefallener ukrainischer Soldaten. Abends trafen wir in einem Künstlerlokal den Essayisten und Psychoanalytiker Jurko Prochasko, einen der besten Kenner der wechselvollen Geschichte von Lwiw. Heute schreibt er in einer Mail: «Wir müssen stehen, es ausstehen, überstehen, um dann wiederaufzuerstehen.» Ob Lemberg demnächst auch bombardiert wird? Noch scheint die Westukraine sicherer zu sein, aber das kann sich schnell ändern. Der bekannte Schriftsteller Juri Andruchowytsch, der im 150 km entfernten Iwano-Frankiwsk lebt, äusserte kürzlich in der FAZ, wenn nötig werde er zu den Partisanen gehen. Ich traue es ihm durchaus zu. Und denke mit Wehmut daran, wie wir in seiner Wohnung Geburtstag feierten, ukrainische Lieder sangen und Ausflüge in die nahe gelegenen Karpaten planten. Momente aus einer fernen Zeit. Auch meine letzte Reise nach Czernowitz, das rund 140 km südöstlich von Iwano-Frankiwsk in der lieblichen Bukowina liegt, scheint plötzlich lange her. Czernowitz, ukrainisch Tscherniwzi, ist die Geburtsstadt von Paul Celan und Rose Ausländer. Zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie war es eine multiethnische, vielsprachige Stadt, deren Architektur sich kaum von der Krakaus oder Zagrebs unterschied. Nach Jahrzehnten der Sowjetisierung gibt es wieder «Wiener Cafés», ein Revival der jüdischen Kultur und ein wunderbares Literaturfestival, «Meridian», das sich der Weltoffenheit verschrieben hat. Wer Europa sucht, wird es hier finden. Hoffentlich auch weiterhin.
Europäisch wirkt auch die grosse Hafenstadt am Schwarzen Meer: Odessa. Das prächtige Opernhaus stammt von den Wiener Architekten Fellner und Helmer, die auch das Zürcher Opernhaus erbauten. Reich verzierte Gründerzeithäuser säumen die platanenbestandenen Strassen. Die Märkte sind bunt, die Cafés chic, jüdische Witze machen die Runde, obwohl die heutige jüdische Bevölkerung prozentual gering ist. Aber der lokale Dialekt, das Odessitische, ist ein mit jiddischen Wörtern untermischtes Russisch von ganz eigener Würze und Prägnanz. Vor wenigen Jahren bin ich durch Odessa flaniert, mit einheimischen Autoren, die mir Kneipen und Synagogen, Parks und die legendäre Hafentreppe zeigten, über die in Sergej Eisensteins Revolutionsfilm «Panzerkreuzer Potemkin» mitten im Chaos ein einsamer Kinderwagen hinabrollt. Jetzt steht die russische Kriegsmarine bereit, um vom Meer aus einen Angriff auf die drittgrösste Stadt des Landes zu starten. Ein Albtraum.
Die zweitgrösste Stadt, Charkiw, ist bereits hart umkämpft, in Teilen gleicht sie einem Trümmerfeld. Hier lebt der Dichter, Romanschriftsteller und Rapper Serhij Zhadan, um den ich mir grosse Sorgen mache. Auf Mails antwortet er seit langem nicht mehr. Er, der aus dem Donbass stammt, ist in den letzten Jahren oft unter Lebensgefahr in die Kriegsgebiete gereist, um Konzerte zu geben. Man lese seinen Roman «Das Internat» und den Gedichtband «Antenne». Sie erzählen mehr über die Ukraine als so mancher Zeitungsartikel.
Ja, ich habe Angst um meine ukrainischen Freunde und Freundinnen, und nicht nur um sie. Jedes Leben, das diesem unsinnigen Krieg geopfert wird, ist eines zu viel. Zumal es zahlreiche gemischte Ehen zwischen Ukrainern und Russen gibt und sogar eine Mischsprache namens Surschyk. Frieden, bitte Frieden! Hände weg von Kiew, seinen Bewohnern und seinen alten Kirchen! Die Ukraine braucht nicht noch mehr Leid, um zu ihrer «Navigation» zu finden, wie es bei Zhadan heisst. Sie kennt ihren Weg, sie wollte diesen Krieg nicht.
Ilma Rakusa
Ilma Rakusa wurde 1946 als Tochter eines Slowenen und einer Ungarin in der Slowakei geboren. Ihre frühe Kindheit verbrachte sie in Budapest, Ljubljana und Triest und übersiedelte 1951 nach Zürich. Sie studierte Slawistik und Romanistik in Zürich, Paris und St. Petersburg. 1977 debütierte sie mit der Gedichtsammlung «Wie Winter». Seither sind zahlreiche Lyrik-, Erzähl- und Essaybände erschienen. Ilma Rakusa übersetzt u.a. aus dem Russischen. Als Publizistin und als Lehrbeauftragte setzt sie sich für die Vermittlung osteuropäischer Literaturen ein. Sie lebt in Zürich.