Evi trug oft auch im Winter Kniestrümpfe, sie wollte nach Frühling aussehen. Blond, hell gekleidet, mit hoher Barbie-Stimme. Ihre Vorfahren stammten aus Skandinavien. Waräger-Mädchen, nannte ich sie. Manchmal auch Eis-Jungfrau. Kalt war sie nicht, ich meine unnahbar. Aber sie legte Wert auf natürliche Distanz. Und wirkte vornehm mit ihren 30 Jahren.
Warum Zürich? Eigentlich sehnte sie sich ans Meer, an gelbe Ostseestrände. Nun war sie an einem See gelandet, mit Blick auf schneebedeckte Berge. Der Job, der Zufall, egal. Nach und nach fand sie Gefallen am Alpinen, wir fuhren zusammen ins Engadin, wo die Seen enzianblau waren und vom Malojawind gezaust, und steil hinunter ins Bergell, wo Alberto Giacometti aufgewachsen war, zwischen Granit, Gneis und nochmals Granit. Auf unserer letzten Fahrt lachte Evi wie verrückt, als hätte sie Albertos Geheimnis erraten. In Promontogno assen wir Buchweizennudeln, mit Mangold garniert und mit Käse überbacken, dann kurvten wir hin-unter ins italienische Chiavenna. Unterwegs erzählte mir Evi, Italien sei lange ihr Traumland gewesen, ihr «O Sole mio», aber nur aus der Ferne. Blitzschnell kam mir die Idee, sie fabelhaft zu überraschen. In Piuro bog ich von der Hauptstrasse ab und fuhr den Hang hoch. Wenig später standen wir vor dem Palazzo Vertemate Franchi, von aussen ein strenges Jagdschloss, umgeben von Fischteichen, Weinbergen und Edelkastanien, aber innen: Wow! Alle Säle mit Fresken ausgemalt, in feinster Manier. Bald schwindelte uns der Kopf von Göttern, Musen und mythologischen Szenen, von Tierkreiszeichen, Medusen und Seeungeheuern. «Himmel», rief Evi, «das reinste Bildlexikon!» – «Ja, ja», nickte die junge Führerin und ihre grünen Augen blitzten. In den Schlafräumen Baldachinbetten, unglaublich einladend. Ganz unvornehm flüsterte Evi: «Hineinhechten, das wär was.» Dann Gänge mit Ahnenporträts und getäfelte Zimmer, ein Speisesaal mit meterlangem Tisch und riesigem Kamin. Hier sass die Jagdgesellschaft, ass und trank, erzählte sich deftige Geschichten, während die Scheite knisterten. Was wenig später kam, wusste keiner.
Anfang September 1618 begrub ein Bergsturz die Seidenhandelsstadt Piuro unter sich, nur der hoch am Hang gelegene Palazzo überstand die Katastrophe. Aus Dankbarkeit, so die Legende, verbrannte man auf dem Gelände einige Hexen, die angeblich zum Unheil beigetragen hatten. Evi zuckte zusammen. Beim Hinausgehen winkten wir einer anmutigen Diana und blauprustenden Delphinen, grüssten die Kassettendecken und eleganten Öfen und drückten unserer Grünäugigen ein Trinkgeld in die Hand.
Die Sonne stand schon ziemlich tief, als wir ins Auto stiegen. In Chiavenna herrschte Corso: alles drängte sich in der schmalen Einkaufsstrasse, die Cafés waren voll. Wir tranken einen Prosecco und sahen den Flanierenden zu. «Italien», sagte Evi, «so hab ichs mir vorgestellt. Kind und Kegel, fröhliches Gedränge, es duftet nach Kaffee. Ich bestell mir noch einen Espresso.» An Obst- und Gemüseläden vorbei schlenderten wir zur steinernen Brücke, bewacht vom Heiligen Nepomuk. Unten schäumte die Maira. Oben verglühten die Berggipfel im Abendrot.
Die Nacht verbrachten wir im Hotel Bregaglia in Promontogno, wo wir zu Mittag gegessen hatten. «Aber kein zweites Mal Buchweizennudeln!», sagte Evi entschieden. Unser Zimmer war gross und schaute talabwärts, Richtung Westen. Bei offenem Fenster konnte man das Rauschen des Flusses hören. Wir waren fast die einzigen Gäste, nur ein älteres Paar schlurfte über den mit Linoleum belegten Flur. In der Stüa, der Wirtsstube, sassen einige Einheimische beim Bier. Ihr Bergellerisch hatte den Klang von Vogelrufen. «Üüüüü», imitierte Evi mit Barbie-Stimme die Männer, sie beachteten uns nicht. Wir bestellten einen Bündnerteller, dazu kräftigen Veltliner. Und plötzlich fing Evi zu erzählen an. «Weisst du, meine Mutter wünschte sich einen Sohn. Zur Welt gekommen bin ich. Wie schwierig das für sie war, hat sie mir viel später gestanden. Aber dann kam er doch, der Bruder. Ich war fünf. Sie liebte ihn abgöttisch. Arnelein, Arnelein, kleiner Schatz. Er war goldig, ich geb es zu. Und alles wäre vielleicht gut geworden, wenn …» Evi trank einen Schluck. «Wenn er nicht mit 13 erkrankt wäre. Ein Hirntumor. Man operierte einmal, zweimal, dreimal – und gab es auf. Wir mussten zusehen, wie das Strahlekind erlosch. Mit 14 war er tot. Und meine Mutter ein lebendiges Wrack.»
Ich ergriff Evis Hand. Ich betrachtete ihr Gesicht, ihren Hals, ihren Brustansatz. Sie war schön. Und in diesem Augenblick unendlich traurig.
Ob sie sich nie wieder einen Bruder gewünscht hat?
«Doch, natürlich. Ich fühlte mich ja irgendwie schuldig, dass ich noch am Leben war. Als ungeliebte Tochter. Aber es war zu spät. Über dem Tod meines Bruders zerbrach auch die Ehe meiner Eltern. Alles futsch, auf einen Schlag.»
«Möchtest du Kinder?»
«Ich glaube schon. Wenn es soweit ist.»
«Soweit?»
«Na, du weisst schon.»
Evis Barbie-Stimme drohte zu zerspringen. Bevor sie in Tränen ausbrach, drückte ich ihr die Serviette ins Gesicht.
«Kennst du Joe, den Saxofonisten?»
«Woher sollte ich?»
«Ich bring euch mal zusammen. Ein Supermusiker und -mann.»
Gegen elf drehten wir noch eine Runde bis zur Bocciabahn, über dem Piz Badile stieg der Mond auf. Es duftete nach Wiese und Wald. Evi hatte sich beruhigt, sie ging wortlos neben mir her, ihre weissen Adidas leuchteten. «Gute Nacht», flüsterte sie wenig später. «Gute …» Mich überfiel ein traumloser Schlaf. Als ich um sieben erwachte, lag sie neben mir, versunken in eine Welt, die nur ihr gehörte.
Teilten wir viel? Ja und nein. Alles in allem waren wir ziemlich verschieden. Und mochten uns vielleicht gerade deshalb. Sie trug helle Farben, ich dunkle, sie las gern Skandinavier, ich Russen. Musikalisch aber standen wir uns nahe. Der Saxofonist Joe, den ich ihr bald nach unserer Rückkehr vorstellte, gefiel ihr jedenfalls auf Anhieb, da hatte ich richtig geraten. Nun sind sie ein Paar. Seitdem trägt sie keine Kniestrümpfe mehr.
Ilma Rakusa
Ilma Rakusa wurde 1946 in der Slowakei geboren und verbrachte ihre Kindheit in Budapest, Ljubljana und Triest. 1951 kam sie nach Zürich und studierte später Slawistik und Romanistik. Sie ist als Autorin, Übersetzerin und Publizistin tätig und wurde vielfach ausgezeichnet, 2019 etwa mit dem Kleist-Preis. Zuletzt ist ihr Prosa-, Gedicht- und Gesprächsband «Mein Alphabet» (Droschl 2019) erschienen.
Ilma Rakusa lebt in Zürich.