Man kennt diese Sprüche, und kann sie doch nie begreifen. «Die Engländer und Russen bringen keine nationale Bewegung zustande, dass alle marschieren. Das kommt nämlich tief aus dem Inneren des Volkes, das ist die Seele. Der Russe hat keine Seele . . .» Das sagt ein junger deutscher Nationalsozialist seiner Verlobten, um ihr die Überlegenheit der Deutschen zu erklären, als sich die Zeichen der Niederlage im Zweiten Weltkrieg mehren.
Der deutsche Schriftsteller Norbert Leithold bringt die Ideologie der Nationalsozialisten in seinem neuen Buch «Herrliche Zeiten» auf den Punkt. Es soll dem Leser erklären, wie unmenschlich sich eine Familie in den Jahren 1938 bis 1970 entwickeln konnte – eine illustrative Geschichtslektion in der Form einer literarischen Soap Opera. Ein Familienroman mehr, nachdem das Genre in den letzten Jahren systematisch ausgereizt wurde? Sicher, aber dieser Roman hat es in sich; er berührt den Leser mehr als andere.
Im Mittelpunkt des Familiendramas steht die Familie Kypscholl. Vater Herrmann ist Unternehmer und überzeugter Nazi. Mutter Elisabeth ist ein schwärmerisches Gemüt der schlichten Art, Sohn Otto schlägt als frei denkender Jüngling über die Stränge, und Tochter Anna will als angehende Medizinerin das Beste für die Menschheit – durch die staatlich verordnete Selektion von lebenswertem Nachwuchs. Misstrauen prägt das Familienleben, jeder hasst jeden; einzig die Geschwisterliebe scheint tragfähig zu sein – und erweist sich in der Not als Illusion. Man denkt an Daniel Goldhagens These von der deutschen Kollektivschuld am Nationalsozialismus.
Chance im Raub
Protagonist Otto passt sich schnell den Denkschemen der Nationalsozialisten an. Als der Krieg ausbricht, erkennt er seine Chance im Raub: Er will möglichst viele Kunstwerke aus Frankreich nach Deutschland überführen – mit der Hilfe eines jüdischen Kollaborateurs, der so sein Leben retten kann. Besatzer Otto schreckt dabei nicht davor zurück, seinen Auftraggebern auch Fälschungen unterzujubeln. In diesem Milieu gehört Betrug zur Überlebensstrategie – ebenso wie Mord und Totschlag.
Der Autor hinter dieser Geschichte ist ein bunter Hund – Historiker, Schriftsteller und Pornoregisseur mit Knasterfahrung. Er wuchs als Norbert Bleisch in der DDR auf, in der Nähe von Schwerin. Leithold arbeitete als Stuckateur, später begann er ein Geschichtsstudium. In den 80er-Jahren wandte er sich den Lebensborn-Heimen zu, jenen Institutionen der Nationalsozialisten, in denen Frauen rassenreinen Nachwuchs zur Welt bringen sollten. Er schrieb darüber einen Roman und publizierte einen weiteren über die angebliche Islamisierung Deutschlands.
In den 90ern wechselte Leithold zur Produktion von Pornofilmen. Unglücklicherweise vergass er, die jugendlichen Darsteller nach ihrem Alter zu fragen, was ihm eine einjährige Freiheitsstrafe eintrug – heute ist er geläuterter Familienvater im Mecklenburg.
Man liest diesen Roman atemlos. Der Autor schafft streckenweise eine quälende Nähe zwischen Lesern und Tätern – und Täter sind in seinem Roman fast alle. Umso ärgerlicher sind die Klischees, die man auch über sich ergehen lassen muss. So ist es zum Schreien, wenn Leithold ausgerechnet den Enkel des pater familias, des Obernazis, in die Berliner Spontiszene der 68er abdriften lässt.
Vier Fragen an Norbert Leithold
«Ich habe keine Heimatgefühle»
kulturtipp: Welches Verhältnis haben Sie zu Deutschland?
Norbert Leithold: Heimatgefühle habe ich nicht, ich könnte auch ein Franzose oder sonst was sein. Sicher bin ich kein Patriot und keinesfalls stolz auf dieses Land. Der Gedanke an das Dritte Reich macht mich sehr traurig, auch wenn ich weiss, dass so etwas auch andernorts geschehen könnte. Aber dafür schätze ich den deutschen Beitrag zur Aufklärung im 18. Jahrhundert umso mehr; davon profitiert Europa heute politisch.
In Ihrem Roman steht das Dritte Reich im Mittelpunkt – warum eigentlich?
Ich habe die gesellschaftlichen Folgen jener Zeit als Kind mit- bekommen. Meine Eltern haben ja das Dritte Reich inhaliert, sie sind damit gross geworden. Meine Mutter hat bis zu ihrem Lebensende den Schlager «Lili Marleen» gesungen, und auch mein Vater singt die Lieder jener Zeit. Sie ist ja noch spürbar in Deutschland – architektonisch beispielsweise. Oder man sieht jüdische Friedhöfe und fragt sich, weshalb die nicht wie die andern umgepflügt wurden.
In Ihrem Buch sind alle wichtigen Charaktere verhaltensgestört.
Aus meiner Sicht verhalten sich meine Figuren normal, allerdings in einer aussergewöhnlichen Zeit. Ich will sie ja nicht psychologisch aufdröseln. Sie tun einfach das, was sie glauben, tun zu müssen.
Sie hätten sich die letzten 100 Seiten des Romans sparen können – die ganze Geschichte rund um die linke Studentenbewegung ist bis zum Abwinken erzählt worden.
Ich habe mich dafür entschieden, weil der Roman weitergehen soll. So musste ich halt die Figuren einführen, von denen man später mehr lesen wird – das ist etwas unglücklich, ich gebe es zu. Aber es wird klar, dass die Geschichte des Dritten Reichs über Generationen hinweg spürbar ist.
Norbert Leithold
«Herrliche Zeiten»
544 Seiten
(DVA 2014)