Das Genie kommt mit dem Fahrrad – und hat Ärger. Die Handwerker waren im Haus, Igor Levit ist entnervt, braucht erst mal in seinem Lieblingslokal etwas zu essen, eine famose italienische Beiz in Berlin Mitte.
Die Rede kommt schnell auf Beethoven und auf den Ex-Fussballer Karl-Heinz Rummenigge. Am 18. April twitterte Levit: «Habe geträumt, mein Agent sei Karl-Heinz Rummenigge.» Nun erklärt er, dass er mit dem FC-Bayern-Präsidenten am Telefon über Beethoven reden musste: «Schrecklich! Rummenigge verlangte immer neue absonderliche Dinge. Ich habe im Traum geweint, fragte mich: Wie habe ich das verdient?»
Ein Musiker, der die Welt kennenlernen will
Erwähnt ein Journalist sonst gegenüber Künstlern Alltägliches aus der Welt – Instagram, Champions-League-Final oder Gratiszeitungen, wissen die Schöngeister bisweilen nicht, wovon das Gegenüber redet. Beim 29-jährigen Levit ist das Gegenteil der Fall: Der Interviewer bekommt schnell den Eindruck, er müsste mit ihm über die neuste Virtual-Reality-Brille oder über Lösungen des Syrien-Konflikts reden, statt über klassische Musik. Prompt erwähnt Levit beim Abschied, dass er am Abend mit dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, mit Norbert Lammert, auf einem Podium sitzen wird.
Typisch Levit: Er gab in New York eine Performance mit Künstlerin Marina Abramović, und er durfte 2010 mit 23 Jahren in der FAZ über sich lesen: «Dieser junge Mann hat nicht nur das Zeug, einer der grossen Pianisten dieses Jahrhunderts zu werden. Er ist es schon.»
Levit auf seine tausend und drei Beschäftigungen angesprochen, bremst das Redetempo, macht eine Pause und spricht im Piano: «Ich kann gar nicht anders, alles ist eins.» Musiker, die sagen würden, die Welt interessiere sie nicht, seien gefährlich und ignorant: «Das ist für mich ein Vorgaukeln, Künstlergetue. Ich glaube nicht an Menschen, die keine Position haben: Ein Musiker kann mir nicht von den höchsten Sphären berichten und vor der Realität die Augen verschliessen. Aber ich kenne einige von denen – auch sehr berühmte.» Nichts nervte ihn früher mehr, als wenn ihm die Freunde sagten: «Ach Igor, weisst du, deine Aufgabe ist, gut Klavier zu spielen.» Das sei nicht wahr, der Schuster müsse nicht bei seinen Leisten bleiben, er müsse auch in die Welt hinaus.
Ja, die Welt . . . Levit ist 1987 in Russland geboren, in Nizhni Nowgorod. Mit vier Jahren gab er dort bereits ein erstes Konzert. Ein dressiertes russisches Wunderkind? Levit widerspricht vehement: «Ich wurde nie gedrillt, nie an ein Klavier gezwungen. Das unterstreiche ich zehn Mal. Ich habe eine selten kluge, gebildete, belesene, humorvolle und sensible Mutter. Wenn ich von ihr etwas als Kind mitbekommen habe, dann waren es Unabhängigkeit und Freiheit.»
Dennoch lernte er das pianistische Handwerk in der Kindheit und sagt bescheiden: «Mama unterrichtete mich, und offenbar gingen einige Sachen schnell.» Die Ehrlichkeit dieses Pianisten ist überraschend. Er könnte ausschlachten, dass seine Mutter einst bei Heinrich Neuhaus studierte – jenem Pädagogen, der die Säulenheiligen unter den Pianisten des 20. Jahrhunderts Emil Giles, Sviatoslav Richter oder Radu Lupu formte. Ist dieses Wissen über die Mutter an den kleinen Igor weitergegeben worden? «Vergessen Sie es; das ist egal.»
Am 10. Februar steht ein weiterer Karriere-Meilenstein an: Das Debüt in der New Yorker Carnegie Hall. «Darauf freue ich mich riesig, aber ein Tag später geht alles normal weiter.» Passend dazu, zitiert er einen Satz von T.S. Eliot, den er über alles liebt: «Wir werden nicht aufhören, zu forschen / und am Ende all unserer Forschungen werden wir wieder da stehen, wo wir anfingen / und werden diesen Ort zum ersten Mal erkennen.»
Twitternd den Alltag dokumentieren
Levit wäre nicht Levit, wenn er den Satz nicht twittergerecht herunterkürzen könnte: «Das heisst nichts anderes als: Bleibt neugierig!» . . . und ruhig: Wieder online lesen wir nämlich bei @igorpianist seinen fünften Tweet vom 19. Oktober: «Türklinke austauschen? Dauert nur 15 min, Herr Levit. Geht ganz einfach! Ruckizucki! Seit mehr als drei Stunden sitzt ein fluchender Handwerker in meinem Flur.»
Konzerte
Mi, 23.11., 19.30 KKL Luzern Bach, Goldbergvariationen
www.lucernefestival.ch
Sa, 31.12., 19.00 Tonhalle Zürich Silvesterkonzert
Vielfältiges Programm
Das Luzerner Pianofestival wird von Grigory Sokolov eröffnet. Erfreulicherweise hat 2016 auch die Orgel wieder Platz, Cameron Carpenter wird im KKL auftreten. Zwei Orchesterkonzerte, klassische Rezitals sowie die beliebte Debüt-Reihe (jeweils 12.15, Lukaskirche) locken nach Luzern. Der Tastentag am 20. November widmet sich der Tradition der russischen Klavierschule. Zum Festivalschluss spielt Lars Vogt mit Freunden Kammermusik von Johannes Brahms.
Pianofestival
Sa, 19.11.–So, 27.11. KKL Luzern
CDs
Beethoven
The Late Piano
Sonatas (Nr. 28–32)
2 CDs
(Sony 2013).
Bach
Partitas
2 CDs
(Sony 2014).
Bach, Beethoven, Rzewski
3 CDs
(Sony 2015).