Stillsitzen, das ist nichts für den 36-jährigen Autor mit dem schelmischen Lachen. Sasa Stanisic sprüht förmlich vor Energie – sei es bei Lesungen oder beim Interview in einem Garten in Leukerbad, wo er am diesjährigen Literaturfestival zu Gast war. Am liebsten ist er in Bewegung – in Zügen oder Flugzeugen geht ihm das Schreiben besonders leicht von der Hand. «Wenn ich auf Reisen bin, sehne ich mich selten nach dem Zuhause, aber wenn ich zu Hause bin, oft nach dem Reisen», sagt der in Hamburg lebende Autor, der auch als Reisejournalist tätig ist.
Dennoch ist Heimat ein wichtiges Thema in seinen Büchern. Als 14-Jähriger ist er mit seiner Familie aus Bosnien-Herzegowina nach Deutschland geflüchtet. In seinem ersten, in über 30 Sprachen übersetzten Roman «Wie der Soldat das Grammofon repariert» lässt er einen jugendlichen Ich-Erzähler von seiner Heimat im Krieg, von Flucht und Neubeginn erzählen. «Ich werde immer über Heimat schreiben, weil ich keine Antwort darauf habe, was sie mir bedeutet», sagt er.
In einer einzigen Nacht
Sein neuster Roman «Vor dem Fest» spielt zwar in einem Dorf in der Uckermark, dennoch verwebt er darin auch Geschichten aus Bosnien. «Die beiden Orte sind ganz unterschiedlich, was die Religion, die Geschichte, die Landschaft oder die Kultur anbelangt, aber die Konzepte des Miteinanderseins und die Archetypen ihrer Mythen sind sehr ähnlich», erklärt er.
«Vor dem Fest» spielt in Anlehnung an James Joyces «Ulysses»in einer einzigen Nacht. Die Bewohner des fiktiven Orts Fürstenfelde befinden sich kurz vor dem alljährlich stattfindenden Dorffest in Aufregung. Sasa Stanisic siedelt hier ein grosses Figurenrepertoire an; Menschen, die lieben und leiden und die der Autor in ihrer ganzen tragikomischen Existenz schildert. Die alte Frau Kranz etwa, die das Dorf seit Jahrzehnten aus jeder erdenklichen Perspektive malt; die dicke Frau Schwermuth, welche die Schwermut nicht nur im Namen trägt, oder der ehemalige Oberstleutnant Schramm, der mehr Gründe gegen das Leben als gegen das Rauchen findet. Die Jugend trifft sich derweil in Ullis Garage zum Trinken – eine Gaststätte gibt es im verschlafenen Ort längst nicht mehr.
Stanisic erzählt in kurzen Episoden von den Erlebnissen und Gedanken der Dörfler, lässt die Geschichten von Toten und Lebenden vorbeiziehen, begleitet einen Fuchs auf der Jagd oder streut Mythen und Märchen ein. Zusammengehalten werden die Geschichten von einem kollektiven «Wir», mit dem Stanisic vom vergangenen und gegenwärtigen Dorfleben berichtet.
Mikrokosmos Dorf
«Ich wollte mir ein eigenes Dorf aus Geschichten, Mythologie und Sprache bauen – so, wie ein Architekt ein Haus errichtet», sagt er. Ihn interessieren Themen wie die Überalterung der Gesellschaft, das Verschwinden von Ortschaften, Traditionen und Menschen. «All das bündle ich in dem Mikrokosmos Dorf.»
Zur Recherche ist er über vier Jahre hinweg immer wieder in ein uckermärkisches Dorf gefahren, das ganz seinen literarischen Vorstellungen entsprach. Er hat mit den Jugendlichen Volleyball gespielt, war mit den Bewohnern angeln oder hat sich in der Garage, die nicht nur in seinem Buch existiert, ein Bier genehmigt – und vor allem hat er den Menschen zugehört, ihre Geschichten gesammelt und mit liebevollem Blick ihre Schrullen und Eigenheiten porträtiert.
«So eine Nacht ist das», wollte er seinen Roman ursprünglich nennen. Denn die Nacht ist ein zentrales Motiv: «Dann ist alles möglich, sie ist leicht surreal und magisch aufgeladen, und die Einsamkeit der Menschen kommt stärker zum Vorschein.»
Für sein Werk hat er zahlreiche Preise erhalten und wird als der literarische «Shootingstar» gehandelt. Für den bodenständigen Schriftsteller ein «aggressiv-militärischer» Begriff, den er nicht nachvollziehen kann: «Ich bin ja kein Popstar.» Die Schublade «Migrationsliteratur», in die er immer wieder gesteckt wird, behagt ihm ebenso wenig. «Schliesslich müsste man einen bayerischen Autor, der in Österreich lebt, auch zur Migrationsliteratur zählen», meint er mit einem Augenzwinkern.
Eigentlich möchte er bloss Geschichten erzählen. Und diese entdeckt er überall. Mit einem gehörigen Schuss Fantasie entsteht daraus seine funkelnde Poesie.
Sasa Stanisic
«Vor dem Fest»
320 Seiten
(Luchterhand 2014).