«Benjamin Grosvenor, das Kind mit der Fliege?», fragt der Bekannte. Und man staunt, wie prägend CD-Covers doch sind. Grosvenor (sprich Grouv’ner), der in England heftig bejubelte, auch im aktuellen deutschen «Fono Forum» hochgelobte englische Pianist war auf dem Cover-Bild seiner zweiten Decca-CD 2013 mit Fliege zu sehen. Die Marke war geboren.
«Ist das gut?», lautet die Frage an den jungen Mann, der jetzt Jeans und einen schlabbrig-gemütlichen Pulli trägt. Und der 22-Jährige erzählt im leeren Frühstücksraum eines Hotels in Hannover zum Thema «Fliege» belustigt die Geschichte, wie er für das Decca-Fotoshooting in einem hocheleganten Geschäft seine Garderobe auszusuchen hatte. «Dank ‹Doktor Who›, der britischen Science-Fiction-Fernsehserie, waren diese Kleider mitsamt der Fliege damals gerade angesagt. Aber das bin nicht wirklich ich, ich trage nie Fliegen.»
Keine Eintagsfliege
Kindheit vorbei, Fliege weg … Was bleibt? Der Pianist? Der jüngste Brite, der je bei Decca einen Vertrag unterschrieb? «Ich mache mein Spiel nicht älter oder jünger. Ich habe absolute Werte», sagt Grosvenor. Schon mit 11 Jahren gab er sein Konzertdebüt. Eben 20 geworden, war er der jüngste Pianist der Geschichte, der je die Eröffnung der legendären Londoner Proms-Konzerte spielte. Gibts etwas Besseres für einen britischen Künstler? «Ja, das Proms-Schlusskonzert!» Grosvenor grinst.
Akribische Analyse
Kommt er mit einem Werk nicht weiter, hört er gerne in die Vergangenheit hinein, lauscht den toten Pianisten. Die aktuellen interessieren ihn hingegen wenig. Erstaunlich ist allerdings, dass viele Twens genauso wie Grosvenor die verstorbenen Pianistenlegenden wie Swjatoslaw Richter, Vladimir Horowitz oder Shura Cherkassky über alles lieben. Grosvenor fasziniert deren Individualität, deren Eigenheit, die es erlaubt, nach wenigen Takten zu sagen: «Ja, das ist Horowitz!» So möchte auch er spielen. Hört er die Legenden, analysiert er akribisch, warum er etwas gern hat.
Vielleicht erlebte das Publikum in Hannover am Abend zuvor im Konzertsaal Ähnliches – und war leicht irritiert. Grosvenor stürzte sich übermütig in Franz Liszts 1. Klavierkonzert und verhaute sich gleich drei Mal. Aber was Grosvenor danach mit dem eigenartigen Werk anstellte, war famos: Stimmung, Emotion und Form waren vereint, das Spiel wahrlich individuell.
Doch als wir ihn fragen, wie er den Abend empfunden hat, schüttet er erst mal reichlich Zucker in seinen Cappuccino, und das Gesicht verfinstert sich so, als ob die Patzer noch einmal hörbar wären. «Heute Abend will ich es besser machen. Mein Onkel, ein Schauspieler, pflegte zu sagen: Die Premiere ist schrecklich – nachher wirds immer besser.»
Grosse Ideen
Auch seine glanzvollen CD- Aufnahmen betrachtet er nicht nur mit Jubel, sondern erzählt, wie schwierig es für ihn sei, sich selbst zu hören. «Es kann zur Obsession werden, wenn man immer noch etwas verbessern will. Wann ist eine Aufnahme fertig?» Anders gefragt: Wann ist man mit seiner Kunst zufrieden?
Grosvenor, der grübelnde Einzelgänger, der ein Leben mit seinen 88 Tasten führt? Keineswegs. Benjamin wuchs mit vier grösseren Brüdern auf. Davon, dass er Czerny-Etüden spielte, derweil die anderen Fussball spielten, will er nichts hören. Nicht die Fussball-Brüder, sondern der zwei Jahre ältere Jonathan, der mit einem Downsyndrom geboren wurde, stand ihm am nächsten. Als Teenager waren die zwei oft mit der Mutter auf Konzerttour. Die Mutter, seine erste Klavierlehrerin, ist bis heute eine Ratgeberin geblieben.
England ist erobert, folgt jetzt der Rest der Welt, die Carnegie Hall? «Meine Agenturen haben einen Langzeitplan, ich hingegen habe keine Ambition, überall auf der Welt zu spielen. Ich will eine Balance für das Leben und die Karriere finden», sagt er sachlich und fügt hinzu: «Und dann will ich eine Familie gründen.» Das ist rührend für diesen jungen Mann mit kindlichem Charme: Seelenlose Hotels wie jenes in Hannover scheinen diesen Wunsch zu verstärken.
Unterwegs ist er mit seinen Werken und grossen Ideen – dennoch ist er überzeugt, dass seine Interpretation von «Gaspard de la nuit» in zehn Jahren ganz anders tönen wird als auf seiner grossartigen ersten Decca-CD von 2012. Und schon ist er wieder bei einem grossen Toten: «Horowitz spielte ein und dasselbe Werk an zwei aufeinanderfolgenden Abenden bisweilen völlig verschieden!» Horowitz, der alte Mann mit der Fliege …
Lucerne Festival am Piano
Beethoven, Topinterpreten – und drei Jungstars
Beethoven-Fans kommen Ende November in Luzern auf ihre Kosten. Der norwegische Meisterpianist Leif Ove Andsnes spielt gemeinsam mit dem Mahler Chamber Orchestra alle fünf Klavierkonzerte des Bonner Klassikers: Passend dazu führt der Brite Paul Lewis die letzten drei Klaviersonaten Beethovens auf. Martin Helmchen will schliesslich die Diabelli-Variationen deuten.
Eigentlich schade, dass man nicht konsequenter ist. Was spricht denn dagegen, eine ganze Woche lang Ludwig van Beethoven zu spielen? So reihen sich denn wie gehabt klassische Klavierabende aneinander – naturgemäss mit spannenden Interpreten: Pierre-Laurent Aimard, Evgeny Kissin, Maurizio Pollini, Marc-André Hamelin. Neben Benjamin Grosvenor spielen in der Debüt-Reihe der Lette Vestard Shimkus und die Deutsch-Italienerin Sophie Pacini.
Die Pianofestival-Habitués wissen es längst: In der Lukaskirche sind zur Mittagszeit für wenig Geld fast durchwegs die Stars von morgen zu hören – wenn sie es nicht schon heute sind. Es gibt noch für alle Konzerte günstige Karten.
Lucerne Festival am Piano
Sa, 22.11.–So, 30.11.
www.lucernefestival.ch
Benjamin Grosvenor auf CDs
Bach, Chopin u.a.
Dances (Decca 2014).
Saint-Saëns, Ravel, Gerschwin
Rhapsody in Blue
(Decca 2013).
Chopin, Liszt, Ravel
(Decca 2012).
Konzerte
Fr. 28.11., 12.15
Lukaskirche Luzern
www.lucernefestival.ch
So, 18.1., 17.00
Zentrum Paul Klee Bern
www.kulturticket.ch