Ein «Genie» mehr auf dem Plattenteller. Eines, das ohne Halt hinaufkatapultiert wurde – um alsbald ins Nichts geschleudert zu werden? Die Spötter dürften sich im Falle des 19-jährigen polnisch-stämmigen Kanadiers Jan Lisiecki irren. Das ist ein Tausendsassa, von dem man noch viel hören will. Dieser junge Mann spielt Mozarts Klavierkonzerte mit solchem Tiefsinn und Leichtigkeit, dass man nur strahlen kann.
Die journalistischen Donnerworte wie «Genie» («Der Spiegel») und «Wunderkind» prallen an seinem jugendhaften Lächeln ab. Sind ihm die Genie-Schlagzeilen keine Last? «Nein, ich freue mich, dass die Konzerte den Menschen gefallen, für einige vielleicht gar inspirierend sind. Ich spiele nicht, um eine Frau zu finden, ich mag es einfach, Konzerte zu geben. Ich bin ein Kind von 19 Jahren – ein junger Mann, wenn Sie wollen.»
Im kanadischen Calgary ist Jan Lisiecki 1995 geboren. Bereits im Alter von fünf Jahren begann er, Klavier zu studieren, machte schon bald als Pianist auf sich aufmerksam. Er übersprang die Schulklassen wie andere Turnstangen und war mit 17 ein international gefragter Pianist. Schon mit 16 nämlich durfte er mit der Sinfonia Varsovia Chopins zwei Klavierkonzerte einspielen – im selben Jahr hatte er jenen Vertrag unterzeichnet, von dem die meisten Pianisten ein Leben lang träumen – jenen der Deutschen Grammophon.
Heute reist er von Orchester zu Orchester, verzückt die Konzertbesucherinnen und -besucher in Peking genauso wie jene in New York. Fast 100 Konzerte gibt er jährlich. «Ich fühlte mich nicht bedrängt, kann mich glücklich schätzen, dass ich die Konzerte auswählen darf», sagt Lisiecki. Der Erfolg sei keine Gefahr für ihn, denn er sei nicht alleine, wisse eine Familie hinter sich. «Ich bin kein Mensch, der sich wie der kanadische Pianist Glenn Gould in seiner Wohnung verschanzt, ich bin ein glücklicher Mensch.» In der Arbeit mit der Musik sei das unheimlich wichtig: «Es wird so viel von aussen an mich herangetragen, die Reaktionen des Publikums, die Kritiken, der Glanz … Sie müssen nicht die Anzahl der Konzerte sehen, sondern meine Freude.»
Liebe zum Gesang
Seine Eltern sind – bezeichnenderweise? – weder musikalisch noch besonders kunstaffin, und doch sagt er: «Ich spielte immer besser, dank meiner Familie, nicht wegen ihr.» Die Mutter ist auf seinen Konzertreisen fast immer dabei, der Vater immer wieder mal. Jan liebt das. «Es ist, wie mit dem eigenen Heim zu reisen. Ich fühle mich weiterhin als normale Person – so gut das möglich ist.»
Vor zwei Jahren in New York besuchte er die Metropolitan Opera, sah Hector Berlioz’ «Trojaner». Er lächelt und sagt: «Für meinen Vater war das etwas schwierig, es war sein erster Opernabend – und Sie wissen ja, die Trojaner dauern fünf Stunden …» Ihn selbst interessiert Gesang sehr: «Der Flügel ist ein perkussives Instrument, da muss man achtgeben, die gesangliche Linie im Ohr zu behalten.» So weit wie András Schiff, der zu diesem Zweck ganze Opernpartituren studiert, ja dirigiert, ist er aber nicht. Noch nicht. «Ich entdecke zurzeit so viel in den neuen Werken, die ich spiele, da blieb keine Zeit, auch noch Opern zu studieren.»
Die Jugend wird bewundert, er selbst bewundert die grossen Alten – vor allem Arthur Rubinstein (1887– 1982). Von den Lebenden nennt er Martha Argerich, Krystian Zimerman und Murray Perahia. «Diese Künstler haben etwas zu sagen. Nur solche Persönlichkeiten können es schaffen, 200 Jahre alte Werke immer wieder neu und anders zu beleben.» Solchen Menschen gelinge es, Mozart in die Gegenwart zu bringen. «Das ist anders als im Pop oder Rock. Der erste Interpret ist meist der beste. Wird dessen Musik nachgespielt, wird es weniger interessant.»
Legenden auf der Spur
Lisiecki ist den Legenden auf den Fersen. Die launische Martha Argerich ersetzte er schon zweimal mit Leichtigkeit. Beim zweiten Mal aber war er nervös, stand da doch Dirigentenlegende Claudio Abbado am Pult. Im Vorfeld hatte er den Horrorgeschichten geglaubt, dass Abbado wegen schlechter Solisten schon mal wutentbrannt das Podium verlasse. Der Abend wurde für alle beglückend, und das lag nicht zuletzt an Jan Lisieckis Kunst.
Kaum ist das Interview nach einer Stunde vorbei, ist eine Unruhe spürbar. Der ruhige, junge Mann hats plötzlich eilig, hüpft unbeschwert die Treppen der Tonhalle Zürich hinunter, zwängt sich in die Windjacke und eilt zurück ins Hotel. Dort warten die Eltern.
CDs
Chopin
12 Etudes op. 10,
12 Etudes op. 25
(DGG 2013).
Mozart
Klavierkonzerte Nr. 20 & 21
(DGG 2012).
Chopin
Klavierkonzerte 1 & 2
(Institute 2010).
Konzerte
Sa, 24.1., 19.30 Druckerei Baden AG (Solorezital innerhalb von «Piano district»)
Fr, 30.1., 20.30 Auditorium RSI Lugano TI (Orchesterkonzert)