Anna Karenina und Giselle: Zwei berühmte Frauenfiguren mit starkem Willen – sie sind kompromisslos und gehen an der Liebe zugrunde. Die 29-jährige russische Tänzerin Viktorina Kapitonova hat schon beide Figuren auf der Zürcher Opernhaus-Bühne verkörpert.
Sitzt man der zierlichen, scheuen Tänzerin in der Opernhaus-Kantine gegenüber, kann man sich fast nicht vorstellen, mit welcher Kraft sie solche Rollen meistert. Im Probensaal und erst recht auf der Bühne ist Viktorina Kapitonova jedoch wie ausgewechselt: energiegeladen von der Fuss- bis zur Fingerspitze, hingebungsvoll in ihrer Darstellung. «Ich spiele keine Rolle, ich versuche, sie zu fühlen», sagt sie.
Im Ballett «Anna Karenina», das Choreograf Christian Spuck letzte Saison auf sie zugeschnitten hatte, bekundete sie anfangs zwar Mühe mit der Geschichte: «Warum bloss gibt Anna Karenina alles auf – ihre Ehe, den gesellschaftlichen Status, die Ehre und sogar ihren Sohn?» Es brauchte eine lange Auseinandersetzung mit dem Text und der Figur, bis sich die Ballerina hineingeben und Anna Karenina als starke Frau sehen konnte, die ihren Gefühlen folgt.
Einen schnelleren Zugang fand sie zur aktuellen Produktion «Giselle», bei der sie zum ersten Mal mit dem Choreografen Patrice Bart zusammenarbeitet. Das unschuldige Bauernmädchen Giselle, das sich unsterblich in einen Grafen verliebt, erinnert sie ein bisschen an sich selbst in früheren Jahren. Viktorina Kapitonova ist in einem russischen Dorf 650 Kilometer östlich von Moskau entfernt aufgewachsen. Ihre Eltern sind Imker, und sie selbst hat früher bei der Arbeit mitgeholfen. «Ich war ein Natur-Mädchen und liebte es, im Wald zu sein», erinnert sie sich.
An Tragik ist der Ballettklassiker «Giselle» kaum zu überbieten: Prinz Albrecht macht Giselle unter falschem Namen schöne Augen. Er gibt sich als Bauer aus, ist jedoch bereits einer Adligen versprochen. Giselle stirbt an gebrochenem Herzen und kommt zu den «Willis», Geisterwesen, die dasselbe Schicksal mit ihr teilen. Sie wollen Rache und die Männer in einen tödlichen Tanz zwingen. Doch Giselles Liebe geht über den Tod hinaus: Sie stellt sich schützend vor ihren Prinzen.
Schwebend leicht
Bei der Probenszene im Opernhaus ist die Welt für Giselle noch in Ordnung: Prinz Albrecht (Denis Vieira) wirbt spielerisch um die junge Frau, bezirzt sie, wirft ihr Küsse zu, umgarnt sie, schenkt ihr Blumen. Giselle entwischt ihm immer wieder, huscht davon, er holt sie ein, umfasst ihre Taille, küsst sie auf den Hals. Und bald wird sie schwach, die beiden versinken im Liebestanz.
Die tänzerisch schwierigste Stelle komme erst im zweiten Akt, verrät die Ballerina: Dann, wenn Giselle im Kreis der Geisterwesen tanzt. «Diese Leichtigkeit, dieses Geisterhaft-Schwebende im Tanz zu erreichen, ist anspruchsvoll», sagt sie. «Es muss aussehen, als ob ich fliegen könnte.» Sie schätzt die Zusammenarbeit mit Choreograf Patrice Bart, der seit über 50 Jahren an der Pariser Opéra arbeitet: «Er weiss alles über Giselle und macht die Rolle für mich klarer, natürlicher.»
Der Weg nach oben
Viktorina Kapitonova hat es sich nie erträumen lassen, dass sie einst an grossen Häusern tanzen würde. Ein Glücksfall war ihre erste Tanzlehrerin in ihrer Heimat, die ihr Talent erkannte. Vom örtlichen Kulturhaus ging es bald in die weite Welt hinaus. Als 12-Jährige ging sie an die Ballettschule in Kasan und später an die Bolschoi Theater Akademie in Moskau. Ihre ersten Solopartien tanzte sie am Dzhalilja-Opernhaus in Kasan. Es sei für sie nicht schwierig gewesen, so jung in die Welt hinauszuziehen, meint die Tänzerin bestimmt. «Die Arbeit auf dem Land ist auf eine andere Weise hart – und wenn ich auf Videos oder in Aufführungen die Primaballerinen sah, berührte mich das stark. Ich wusste, dass ich diesen Weg einschlagen will.»
Seit 2010 ist sie im Ballett Zürich. In der Ära von Choreograf Heinz Spoerli tanzte sie Odette/Odile in «Schwanensee» und andere Soloparts. «Nach Russland war Zürich wie ein Märchen für mich – so leicht, schön und angenehm», schwärmt sie. Nur ein bisschen mehr Glamour – etwa eine Gala – und internationales Flair würde sie sich für Zürich noch wünschen. Heimweh nach ihrer Familie in Russland, die sie ein- bis zweimal im Jahr besucht, hatte sie nur anfangs.
Strikter Trainingsplan
Ihr Tagesablauf ist von einem strikten Trainings- und Probenplan bestimmt. Doch die junge Tänzerin ist zäh: «Das Tanztraining verlangt einem viel ab, aber der Körper bleibt stark, wenn man es täglich macht. Und sogar wenn mich etwas schmerzt, fühlt es sich nach dem Training besser an.» Für die Entspannung sorgt ihr Freund, der mit ihr in Zürich lebt. Mit ihm unternimmt sie alles: spazieren, schwimmen, malen, Tischtennis spielen, Ausflüge an den See, ins Hamam oder zum Dinner in ein Restaurant.
Und die viel beschworene Konkurrenz unter den Balletttänzerinnen? Viktorina Kapitonova sieht es pragmatisch: «Ich stehe vor allem in Konkurrenz mit mir selbst. Ich versuche, es immer noch besser zu machen.» Die Hauptrolle der Giselle wird sie sich zusammen mit Yen Han, Galina Mihaylova und Polina Semionova teilen. «Ich kann schauen, wie es die anderen machen, aber die Rolle muss ich für mich selbst fühlen – auch wenn die Schritte dieselben sind, hat jede eine andere Energie.»
Das Publikum kann sich von Viktorina Kapitonovas tänzerischem Ausdruck nicht nur im Stück «Giselle» überzeugen. In Christian Spucks Inszenierung «Leonce und Lena» ist sie noch ein paarmal als Rosetta zu sehen. Und in der Inszenierung «Strings» – drei modernere Choreografien von Edward Clug, William Forsythe und Christian Spuck – sprengt sie zusammen mit anderen Tänzerinnen und Tänzern die Grenzen des klassischen Balletts.
Aufführungen im Opernhaus Zürich
Giselle
Premiere: Sa, 28.3., 19.00 Mit Yen Han als Giselle und Denis Vieira als Prinz Albrecht
Viktorina Kapitonova als Giselle
Sa, 4.4., 20.00 Mit Denis Vieira als Albrecht
Do, 23.4., 19.00/So, 26.4., 20.00 Mit Roberto Bolle als Albrecht
So, 17.5., 14.00 Mit Friedemann Vogel als Albrecht Leonce und Lena
Mo, 6.4., 14.00/Fr, 17.4., 19.00 Viktorina Kapitonova als Rosetta
Strings
Mi, 8.4., 19.00 Drei Choreografien:
«Chamber Minds» von Edward Clug / «Workwithinwork» von
William Forsythe / «Das siebte Blau» von Christian Spuck
Weitere Termine:
www.ballett-zuerich.ch