Muss man Berner sein, um ein «Seelegramüsele» geniessen zu können? Schade jedenfalls, kennt die Restschweiz ein sich dermassen selbst geniessendes Wort nicht. Die Orchesterleiterin Meret Lüthi weiss genau, warum wir darauf zu sprechen kommen. Eine ihrer Musikerinnen übersetzt damit auf einem Videoclip den Ensemblenamen Les Passions de l’Ame. Noch Fragen, was ein Orchester mit solcher Benennung alles kann?
Vor fünf Jahren hat Meret Lüthi Les Passions de l’Ame gegründet: Ein Barockorchester, das für lebendige Interpretation auf historischem Instrumentarium sorgen wollte. In Bern erspielte man sich rasch ein Stammpublikum – und wichtige Geldgeber. Kein Wunder: Die Formation überraschte mit Konzertprogrammen, die nicht nur optisch anders als das Gewohnte daherkamen – sondern auch anders klangen.
Fussballglücksformel
Die Fussballglücksformel von den elf Freunden schien sich in diesem Barockorchester verselbständigt zu haben. 14 Freunde zählt der Stamm der Formation, der je nach Projekt verdoppelt und verdreifacht werden kann. Lüthi leitet das Ensemble als Konzertmeisterin vom ersten Pult aus; alle Musiker folgen ihrer Geige.
Man zweifelt keine Sekunde, dass die zierliche Frau ihre Mitmusiker begeistern kann: Charme, Klarheit im Denken und ein grosser Willen zeichnen die 36-Jährige aus, die mit 23 ihre erste Hochschulstelle in Fachdidaktik innehatte. Ist es Berner Bescheidenheit, dass sie alle Blumen gleich ihrem Ensemble weitergibt? «Bei uns hat je-der Führungsfähigkeiten, jeder könnte vorne stehen und Konzertmeister sein. Ein Orchester kann nur so hoch steigen, wie es im Potenzial jedes einzelnen Musikers liegt.» Nur wenn jeder mit offenem Geist spiele, lasse sich zum Höhenflug abheben.
Die Musiker ziehen mit, da jeder weiss, wie Lüthi vorne die Fäden zieht. Notfalls tippt sie auch mal ein Programm selber und schickt es dem Veranstalter. Die Strukturen bei Les Passions de l’Ame sind schlank, was viel Arbeit bedeutet. «Ich habe die Augenringe weggeschminkt», sagt Lüthi lächelnd. Wer so viel verwirklichen will, hat keine Zeit zu klagen. Nur eines wollte die Bernerin nicht zwingend machen … eine CD einspielen.
«Meine Vision von Musikmachen lässt sich nicht festhalten: Ich spiele jedes Mal anders, und ich führe die Musiker jedes Mal anders. Ich kann keine Momente kopieren.» Doch siehe da: Kaum waren 2013 die Mikrofone aufgestellt, war das Abenteuer CD unheimlich schön – und nützlich. So sehr man anderen Multiplikatoren vertraut hatte, die CD führte zu Neuem.
Das CD-Projekt
Möglich wurde das CD-Projekt dank «We make it» – einer Schweizer Kultur-Crowdfunding-Plattform. Typisch Lüthi, die sich vom Markt nicht gängeln lassen will. «Ich darf keine reine Geschäftsfrau werden, sondern möchte in den Konzerten auf Wolken schweben und Künstlerin bleiben.»
Man spielte die CD nicht irgendwo ein, sondern gleich bei der deutschen Harmonia Mundi, dem Barocklabel von Sony. Jetzt wusste plötzlich die halbe musikalische Welt, welch famoses Ensemble in Bern herangewachsen war. Einladungen flatterten reihenweise ins Haus. Zürich und Basel, klar – bald auch London und Cambridge.
Sie weiss, dass Musiker wie Giovanni Antonini oder Fabio Biondi einst ebenfalls «nur» Ensembles leiteten, sagt aber: «Ich hatte nie das Gefühl, ich könne mit der Geige nicht zeigen, was ich will. Aber vielleicht müsste ich den Gedanken zulassen, mal so frech denken – dann hätte es womöglich Platz.» Was sie an Dirigenten liebt, verwirklicht sie in ihrer aktuellen Rolle: «Aus den Musikern das Maximum herausholen, das Mitdenken fördern, die innerste Energie freisetzen, und stets der musikalischen Intuition der Musiker vertrauen.»
Den Markt erobert, die neue CD «Bewitched» vor Augen, die Zukunft gesichert? Doch so denkt die Geigerin nicht! «Da ist einfach ein Bedürfnis. Umso schöner, dass ein stetig wachsendes Publikum Freude daran hat.» Sie glaubt an die Sache, an Les Passions de l’Ame – ans «Seelegramüsele».
«Gramüsele» tut übrigens ein eingeschlafener Fuss: Aber gemeint ist nicht der Schmerz, sondern ein angenehmes «Chrüsele» oder «Chräbele»!
CDs
Bewitched
(DHM/Sony 2014; ab 26. September).
Spicy
(DHM/Sony 2013).
Konzerte
Do, 4.9., 19.30 Kirche Biglen BE, Kapellenkonzerte
Fr, 5.9., 20.15 Ref. Stadtkirche Lenzburg AG
So, 5.10., 16.00 Lavatersaal vis-à-vis Kirche St. Peter Zürich, Konzertgespräch mit Meret Lüthi
So, 5.10., 17.00 Kirche St. Peter Zürich, «Tage für alte Musik»
Do, 30.10., 19.30 Barocksaal Hotel Bären Langenthal BE, Kammermusik-Konzerte
Sa, 1.11., 19.30 Bauart Basel