Das erste Theaterstück, in das man mich ausführte, war Ödipus, die erste Oper Elektra von Richard Strauss. Doch während ich diese grausamsten aller Tragödien über mich ergehen liess, in denen die Götter menschliche Vergehen mit unerträglichen Strafen ahnden, fühlte ich mich nicht in eine ferne, längst vergangene Kultur versetzt, in der Furcht und Mitleid herrschten. Stattdessen war mir, als kämen Ödipus und Elektra zu mir, in mein Land, in die neue Geografie, die ich jetzt bewohnte. Und ich entdeckte eine ganz unerwartete Liebe zur Oper. Die längste Zeit meines Lebens war das für mich eine der unverständlichsten Kunstformen gewesen. Ich begriff nicht recht, was da eigentlich vor sich ging (obwohl ich fleissig die Zusammenfassung der Handlung gelesen hatte); ich war voreingenommen gegen die Leute, die da im Smoking beim Picknick sassen und dieses Genre anscheinend als ihr Eigentum betrachteten; vor allem aber konnte ich mich nicht in diese andere Welt hineinversetzen. Opern kamen mir wie zutiefst unglaubwürdige und schlecht konstruierte Theaterstücke vor, in denen sich die Figuren alle gleichzeitig anschrien. Das erste Problem – das der Verständlichkeit – wurde durch die Einführung von Übertiteln behoben. Doch jetzt, in der Dunkelheit des Zuschauerraums und der Dunkelheit des Leids, löste sich die Unglaubwürdigkeit dieser Kunst plötzlich auf. Nun erschien es ganz natürlich, dass Leute auf der Bühne standen und sich gegenseitig ansangen, denn Gesang war ein ursprünglicheres Kommunikationsmittel als das gesprochene Wort – höher und tiefer zugleich. In Verdis Don Carlos ist der Held im Wald von Fontainebleau gerade erst seiner französischen Prinzessin begegnet, da liegt er auch schon auf den Knien und singt: «Ich bin Carlos … Ich liebe dich.» Ja, dachte ich, das stimmt, so ist das Leben, und so sollte es auch sein, konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Natürlich kennt die Oper auch Handlung – und ich sah schon all die unbekannten Geschichten vor mir, die ich jetzt entdecken würde –, doch ihre wichtigste Funktion besteht darin, die Figuren so schnell wie möglich dahin zu bringen, dass sie von ihren tiefsten Gefühlen singen können. Die Oper kommt direkt zur Sache – ebenso wie der Tod. So ging nun die genügsame Gleichgültigkeit bei (Fussballspielen wie …, Anm. der Redaktion) Middlesbrough gegen Slovan Bratislava mit dem heftigen Verlangen nach einer Kunst einher, in der gewaltsame, überwältigende, hysterische und zerstörerische Emotionen die Norm waren; einer Kunst, die einem offensichtlicher als jede andere das Herz brechen will. Da hatte ich meinen neuen gesellschaftlichen Realismus.
Ich ging in ein Londoner Kino und sah mir eine Direktübertragung von Glucks Orpheus und Eurydike aus New York an. Vorher machte ich meine Hausaufgaben und hörte mir das Stück mit dem Libretto in der Hand an. Und ich dachte: Das kann überhaupt nicht funktionieren. Einem Mann stirbt die Frau, und seine Klagen rühren die Götter, sodass sie ihm schliesslich erlauben, in die Unterwelt hinabzusteigen, seine Frau zu suchen und zurückzuholen. Allerdings gibt es eine Bedingung: Er darf sie nicht ansehen, bis beide auf die Erde zurückgekehrt sind, sonst ist sie für ihn auf ewig verloren. Während er sie aus der Unterwelt hinausführt, bringt die Frau ihn dazu, sich nach ihr umzusehen; und dann stirbt sie; und dann klagt er noch anrührender um sie und zieht sein Schwert, um Selbstmord zu begehen; und dann erweckt der Gott der Liebe, durch diese Demonstration der Gattenliebe gnädig gestimmt, Eurydike wieder zum Leben. Also wirklich, wer soll denn das glauben? Mein Problem war nicht das Auftreten oder das Verhalten der Götter – das konnte ich alles leicht hinnehmen; mein Problem war die Gewissheit, dass sich niemand, der einigermassen bei Sinnen ist, umdrehen und Eurydike ansehen würde, weil er sich über die Folgen im Klaren ist. Und als wäre das noch nicht genug, sollte die Rolle des Orpheus, ursprünglich ein Kastrat oder ein Kontratenor, aber heutzutage eine Hosenrolle, in dieser Inszenierung von einer beleibten Altistin gespielt werden. Aber ich hatte Orpheus, diese Oper, die geradezu perfekt auf die Leidtragenden zugeschnitten ist, ziemlich unterschätzt, und so tat die Kunst in diesem Kino wieder einmal ihr Wunderwerk. Natürlich musste Orpheus sich nach der flehenden Eurydike umdrehen – wie könnte es anders sein? Denn obwohl «niemand, der noch bei Sinnen ist», das tun würde, ist er vor Liebe und Leid und Hoffnung völlig von Sinnen. Man verliert die ganze Welt um eines Blickes willen? Aber klar doch. Dazu ist die Welt doch da: damit man sie unter den richtigen Umständen verliert. Ist es überhaupt denkbar, dass man sich an sein Gelübde hält, wenn man Eurydikes Stimme hinter sich hört?
Die Götter erlegen Orpheus Bedingungen auf, als er in die Unterwelt hinabsteigt; er muss sich auf den Handel einlassen. Der Tod fordert uns häufig zum Feilschen heraus. Wie oft haben wir in Büchern gelesen, in Filmen gesehen oder in der allgemeinen Erzählung des Lebens gehört, dass jemand Gott – oder sonst einem höheren Wesen – verspricht, sich soundso zu benehmen, wenn er nur ihn oder seinen geliebten Menschen oder gleich alle beide verschont? Als ich an die Reihe kam – in jenen angsterfüllten 37 Tagen (als seine Frau an Krebs erkrankt war, Anm. der Red.) –, war ich nie versucht zu feilschen, weil es in meinem Kosmos niemanden gab und gibt, mit dem ich hätte feilschen können. Würde ich alle meine Bücher für ihr Leben geben? Würde ich mein eigenes Leben für ihres geben? Das Ja ist leicht gesagt: Solche Fragen waren rhetorisch, hypothetisch, opernhaft.
Julian Barnes
Der englische Erfolgsautor Julian Barnes (*1946) hat Bücher wie «Nichts, was man fürchten müsste» oder «Vom Ende einer Geschichte» geschrieben. Er wurde mit renommierten Literaturpreisen, u.a. dem Booker Prize, ausgezeichnet. Der Schriftsteller lebt in London. Vor kurzem ist sein Roman «Lebensstufen» erschienen.
Aus: «Lebensstufen» von Julian Barnes, © 2015 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, Titel der Originalausgabe: «Levels of Life», © 2013 Julian Barnes, Aus dem Englischen von Gertraude Krueger