Am Ende des Bambusdschungels taucht ein kleines Häuschen auf. Ein von Hand gekritzelter Name auf einem Schildchen verrät, wer sich hier sein Schreibdomizil eingerichtet hat. Nach dem Schlag des eisernen Türklopfers öffnet der Poet die Türe: Urs Widmer, wie man ihn kennt, in Kordhose mit Hemd und Hosenträgern und einem freundlichen Lachen. Die steile Treppe führt direkt in seine Schreibkammer. Auf dem Pult verbirgt sich hinter Büchern und Papierstapeln seine Schreibmaschine. Zwei Korbstühle in der Sonne und eine Kanne Tee laden zum Gespräch.
kulturtipp: Urs Widmer, Sie feiern ihren 75. Geburtstag an den Solothurner Literaturtagen. Wie haben sich diese in den 35 Ausgaben verändert? Erinnern Sie sich an besondere Episoden?
Urs Widmer: Anfangs war es eine Art Freundestreffen, für welches das Restaurant Weisses Kreuz in Solothurn ausgereicht hat. Ich erinnere mich etwa an den 50-jährigen Max Frisch, der mir mit dem Finger auf die Brust getippt und gefragt hat: «Sag mal, für wie alt hältst du mich?» Als ich sagte «etwa 50», war er beleidigt. (lacht) Inzwischen hat sich das Angebot stark vergrössert. Dadurch ist es anonymer, aber gleichzeitig mächtiger geworden.
Wie hat sich die Schweizer Literaturszene entwickelt?
Die Schweizer Literatur ist in Form wie noch nie! Ich glaube, im Zuge der Moderne und Postmoderne ist die Leichtigkeit bei allen grösser geworden. Das Über-Ich, das einem vorgibt, wie man schreiben muss, wurde abgebaut – das hat der Literatur gut getan. Man lässt sich durch den Kanon keine Vorschriften mehr machen. Dazu habe ich auch meinen Teil beigetragen. Ich hatte das Glück, in die – auch kulturell aufrührerischen – 68er reinzugeraten. Die amerikanische Pop Art hat mich etwa stark beeinflusst. Den Schweizer Kuchen hab ich hingegen nur am Rande miterlebt, da ich 18 Jahre in Deutschland gelebt habe. Ich fühle mich aber stark in der Tradition von Gottfried Keller und Robert Walser stehend.
In eine Schublade stecken lässt sich der in Basel geborene Schriftsteller mit der ausufernden Fantasie nicht. Gnomen und Elfen bevölkern seine Werke, in anderen spielt er mit persönlichen Bezügen. In seinen Theaterstücken hingegen äussert er sich gesellschaftskritischer, etwa im aktuellen Stück «Das Ende vom Geld». Im Theater sei er ein anderer und deutlich aggressiver, sagt Urs Widmer. «Die Themen im Theater haben oft mit Machtfragen zu tun, und daraus entsteht eine unvermeidliche Polemik.»
Die Kindheit während Kriegszeiten an der Grenze zu Deutschland hat Urs Widmer geprägt. Im Herbst erscheint seine Autobiografie «Reise an den Rand des Universums», in der er seine ersten 30 Lebensjahre beschreibt. Darin hat sich der Sprachkünstler für einmal am Zügel genommen: Er habe sich das Erfinden verboten und versucht, bei einer einfachen, nüchternen Sprache zu bleiben.
Sie schöpfen aus einem unergründlichen Schatz an Fantasie. Aus welchen Tiefen kommt dieser?
Das ist unerklärlich … Ich ticke fantasiemässig anders als die meisten. Der Fantasie gegen-über habe ich aber auch ein Misstrauen. Denn sie ist ja oft auch schwarz, schmerzhaft oder übeschwemmt einen. Eigentlich bin ich ein Fan der Vernunft und versuche, die Fantasie so zu bändigen, dass sie der Vernunft gleicht. Wenn ich meinen Fantasien freien Lauf lasse, ist das Geschriebene nicht mehr zugänglich – manchmal selbst mir nicht.
In Ihren Büchern steckt aber auch viel Persönliches …
Oh ja, ich habe bestimmt 18 Mal den Tod meines Vaters beschrieben. So fantasievoll ich wirke, vieles ist autobiografisches Material, das mich geprägt hat. Ein Schriftsteller sollte seine Literatur aber nicht als Therapie verwenden. Diese habe ich in Form einer intensiven Psychoanalyse gemacht. In meine Bücher nehme ich nur die Kernelemente – das hat der Leichtigkeit meiner Literatur geholfen. Verkrampfte Abrechnungen gibt es darin nicht.
Ist für Sie das Schreiben eine Notwendigkeit?
Es ist sogar eine Art Besessenheit. Andererseits ist es aber auch eine Art Glücksmaschine. Schreiben, das gelingt, schafft ein unglaubliches Glücksgefühl – der Triumph, wenn man es schafft, den bösen Inhalt in eine schöne Form zu bringen …
Sie lieben das Spiel mit der Sprache. Steht für Sie Sprache über Inhalt?
Nein, ich stelle die Sprache in den Dienst des Inhalts. Ich möchte, dass die Sprache im Inhalt verschwindet. Und trotzdem ist die Sprache das Herz von allem. Das ist natürlich ein gewisser Widerspruch. Aber es ist beglückend, wenn man die eigene Melodie gefunden hat.
Schönes und Schreckliches stehen in Ihren Texten oft nahe beieinander.
Ja, ich brauche aufmerksame, langsame Leser. Sonst bemerkt man diese Brüche gar nicht. Wenn man in meinen Büchern auf Fakten hin liest, gerät man schnell durcheinander. Man muss den emotionalen Sound mithören. Manchmal sind es nur winzige Schmerzschläge, wenn es kippt. Diese sind aber ganz wichtig, weil sie die eigentliche Botschaft vermitteln.
Solothurner Literaturtage
Ehrung für Urs Widmer
Laudatio: Klaus Hoffer, Urs Widmer liest aus seiner Autobiografie
So, 12.5., 15.00
Landhaussaal Solothurn
Radio-Hörspiele
S Kind wo-n-i gsi bi (SRF 1991)
Fr, 17.5, 20.03 SRF 1
Vom Fenster meines Hauses aus (Ursendung)
Sa, 18.5., 20.00 SRF 2 Kultur
Fr, 24.5., 20.03 SRF 1
Neuanfänge
Zum 35. Mal wird Solothurn zur Hauptstadt der Literatur. Die neue Direktorin Bettina Spoerri hat zum Motto «Anfänge» rund 120 Autoren sowie Übersetzer aus der ganzen Welt geladen: Michael Cunningham, Hansjörg Schertenleib, Ursula Krechel, Navid Kermani, Jenny Erpenbeck, Ilma Rakusa und viele weitere. Sie gehen etwa der Frage auf den Grund: Welches Potenzial birgt ein erster Satz? Nebst den Lesungen, Werkstatt-
gesprächen und literarischen Spaziergängen findet erstmals ein Poesiesalon und ein Think-Tank aus Autoren und Literaturschaffenden statt. In zwei Ausstellungen sind Werke der Graphic Novels zu entdecken. Den diesjährigen Solothurner Literaturpreis erhält Franz Hohler. Zudem findet in Solothurn die Preisverleihung zum Schweizer Literaturpreis 2013 statt. (bc)
Solothurner Literaturtage
Fr, 10.5.–So, 12.5., www.literatur.ch