Ein sackstarker Romananfang, den kein Leser vergisst: Ein verliebtes Paar, der Journalist Joe und die Literaturagentin Clarissa, beobachten in ländlicher Idylle, wie sich ein Freiluftballon mit einem kleinen Jungen im Korb losreisst: «Wir rannten auf eine Katastrophe zu. Diese war selbst eine Art Schmelzofen, in dessen Hitze Identitäten und Schicksale sich verformten», beschrieb McEwan den Moment.
Joe versucht mit vier zufälligen Rettern, den Ballon am Boden zu halten, doch der steigt und steigt. Jetzt ist es eine Frage von Leben und Tod. Wer zuerst loslässt, überlebt am ehesten, riskiert aber den Tod der andern. Das Fazit: Alle springen ab ausser einem. Er verpasst den letzten Moment zum Abgang und fällt als «starrer, schwarzer, schmaler Strich» zu Boden.
Der aufopfernde Helfer wird zum elenden Stalker
Bei dieser Tragödie lernt Joe einen der Helfer näher kennen: «In diesem Augenblick merkte ich, dass Jed Parry mich beobachtete. Sein längliches, knochiges Gesicht blickte schmerzlich fragend. Er sah elend aus, wie ein Hund, der bestraft werden will. »
Dieser Jed fühlt sich nach dem Vorfall mit Joe innig verbunden und stellt ihm nach. Gleichzeitig sind sich Joe und Clarissa näher denn je – zumindest vorläufig. Denn Jed entwickelt sich nach und nach zu einer Bedrohung ihrer Liebesbeziehung. Er verfolgt Joe unablässig. Dieser wagt es zuerst nicht, Clarissa in die Gefahr einzuweihen. Als er es endlich tut, glaubt sie ihm nicht. Mehr noch: Clarissa stellt Joes Glaubwürdigkeit grundlegend infrage, es kommt zur Eskalation. Auch die Polizei, an die sich Joe in seiner Verzweiflung wendet, zeigt kein Verständnis.
Der 70-jährige Ian McEwan gehört heute zu den wegweisenden Autoren der Insel. Mit Werken wie «Saturday» oder «Abbitte» erhielt er internationale Anerkennung, seltsamerweise für eines seiner schwächeren Bücher, «Amsterdam», den Booker-Preis. Er schrieb auch charmante literarische Fingerübungen wie «Am Strand» (Seite 14).
Existenzielle Fragen prägen seine Romane
Die Bücher McEwans beschäftigen sich meist mit dem Schicksalhaften von Beziehungen. Zufällige Begegnungen können eine Biografie zum Guten wie zum Schlechten verändern. Oft spielen existenzielle Fragen hinein, wie bei «Kindeswohl»: Haben fromme Eltern das Recht, dem Kind eine überlebenswichtige Bluttransfusion zu verweigern?
In «Liebeswahn» entwickelt sich der Stalker Jed zum Katalysator zwischen dem rationalen Joe und der emotionaleren Clarissa. Der Autor baut eine konfliktreiche Spannung um das Paar auf, der sich der Leser nicht entziehen kann. «Ich glaubte immer, unsere Liebe war so gross, dass sie immer weiter geht. Vielleicht tut sie das, ich weiss es nicht», sagt Clarissa.
Bleibt nur die Frage, was geschehen wäre, wenn Clarissa und Joe die Ballonszene nie beobachtet hätten. Hätte ein anderer Wink des Schicksals zu einer ähnlichen Krise geführt? McEwan gibt keine Antwort, weil selbst der Autor sie nicht wissen kann.
Buch
Ian McEwan
Liebeswahn
Deutsche Erstausgabe: 2000, 355 Seiten
(Diogenes)
Verfilmung auf DVD erhältlich