Das ist kein gynäkologischer Befund, sondern politisch gemeint: «Dieser Embryo ist mittelinks.» Damit charakterisiert der englische Schriftsteller Ian McEwan in einem Interview den Ich-Erzähler in seinem neuen Roman «Nussschale». Der Embryo kommentiert im mütterlichen Fruchtwasser die Geschehnisse in seiner nächsten Umgebung. Hässliches trägt sich zu.
Seine Mutter hat nämlich ein Verhältnis mit ihrem Schwager. Mehr noch: Das Paar plant, den Kindsvater zu ermorden, einen schrulligen Dichter, um an dessen verfallenes, aber schändlich teures Londoner Haus zu kommen. Der «mittelinks Embryo» bekommt diese Verschwörung als unfreiwilliger Zeuge mit und steht vor der Frage, lohnt es sich, in eine solche Welt zu kommen?
Die Ankunft in der Welt will gut überlegt sein
Sein oder Nichtsein? Die existenzielle Frage in Shakespeares «Hamlet» stellt sich dem werdenden Menschen, der sich vor seiner Geburt die Zukunft ausmalt: «Ich Armer, ich elender Dreijähriger mit Igelschnitt, Wampe und Tarnhose, verloren in einer Wolke aus Fernsehlärm und Passivrauch.» Wer diese Perspektive einer Kindheit vor sich hat, überlegt sich die Ankunft in der Welt gut.
Ian McEwan hat einen einzigen Erzählort gewählt, die heruntergekommene Londoner Villa des Mordopfers. Im Mittelpunkt stehen die beiden Verschwörer, die andern Personen treten wie Schauspieler auf die Bühne und verschwinden wieder, einzig kommentiert von diesem wachen Kerlchen, dem Embryo. Er entdeckt eines Tages einen Stummel an sich und ist zunächst etwas enttäuscht, dass es angesichts der Vielfalt des Lebens nur Frau und Mann gibt. Bis ihm dämmert – politisch sehr korrekt –, dass Varianten dazwischen denkbar erscheinen.
Booker-Preisträger McEwan steht mit 68 Jahren auf dem Höhepunkt seines literarischen Ruhms. Die Verlage hätscheln ihn wie einen Superstar, im Vorfeld seiner neuen Bücher werden Informationen dazu nur häppchenweise geliefert. Im englischsprachigen wie im deutschsprachigen Raum haben damit die Regeln des Showbusiness definitiv Einzug gehalten. Das ist bei McEwan nachvollziehbar, weil er mit fast jedem seiner Romane einen Erfolg landete. Zuletzt mit «Kindswohl» und «Honig», vor allem aber mit «Abbitte», der Kriegstragödie, die mit Keira Knightley verfilmt wurde. In einem Jahr kommt die Verfilmung seiner Novelle «Am Strand» in die Kinos; diese rührende Liebesgeschichte hatte nach ihrem Erscheinen vor fast zehn Jahren ausnahmsweise schlechte Kritiken geerntet, weil sie vielen Lesern zu süsslich erschien.
Die labile Mutter und ihr geldgieriger Liebhaber
In den meisten seiner Romane wählte McEwan einen ungewöhnlichen Erzähler wie nun den Embryo. Schweizer Leser werden dabei an den kürzlich erschienenen Roman «Andersen» von Charles Lewinsky denken, der die Embryo-Idee ebenfalls literarisch umgesetzt hat.
McEwans werdender Mensch erkennt, dass seine Mutter eine labile Frau ist, die sich kaum alleine im Leben behaupten kann. Pech nur, dass ihr Liebhaber, der Bruder des Mordopfers, ein ebenso geldgieriger wie depperter Zeitgenosse ist, ein intellektueller Halbschuh, der nur Phrasen drischt und zu keinen Gefühlen fähig ist ausser zu abgrundschlechten. Er wittert nun die Chance seines Lebens, an seinem überlegenen Bruder Rache zu nehmen: «Seine Geistlosigkeit hat etwas Poetisches, eine Form von Nihilismus, der das Gewöhnliche aufwertet», konstatiert der naseweise Embryo, der sich durch eine stupende Allwissenheit auszeichnet, als hätte er im Mutterleib eine Volkshochschule besucht.
Hat er aber nicht, vielmehr nimmt er an den ausschweifenden Trinkgelagen seiner Mutter Anteil, so sehr, dass er den «durch die Plazenta dekantierten Sancerre» zu lieben beginnt. Es sei denn, sie haue zu sehr über die Stränge: «Der Wein spült mich fort, weit über blosse Trunkenheit hinaus, meine Sinne lassen die Worte verschwimmen, doch entnehme ich ihnen noch, welcher Umgang mich erwartet, schemenhafte Gestalten auf blutiger Leinwand . . .»
Wieder und wieder taucht die Grundfrage nach Sein oder Nichtsein auf. In seiner bekannten Art beleuchtet McEwan die Frage aus zwei sich widersprechenden Perspektiven und überlässt dem Leser das Urteil: «Der sich ausbreitende Bazillus des Antisemitismus; wütende, gelangweilte Immigranten, die den Mut verlieren. Anderswo, nein überall, eine noch nie dagewesene Ungleichverteilung des Vermögens, die Superreichen eine Rasse für sich. Staaten beweisen Genialität in der Erfindung fantastischer neuer Waffen, weltweite Konzerne in der Steuerflucht . . .» Wer will das alles erleben? Nur: «Was ist mit den alltäglichen Wundern, die einen Caesar August jeden heutigen Arbeiter beneiden lassen würden: schmerzfreie Zahnbehandlung, elektrisches Licht, weltweiter Sofortkontakt mit den Menschen, die wir lieben, Zugang zur besten Musik, die die Welt je gehört hat?»
Feinfühlig, flüssig und unterhaltsam
Ganz so schlimm können die Aussichten auf ein zukünftiges Leben also nicht sein. Auch wenn jeder Sozialarbeiter die Startbedingungen dieses Embryos als «heikel» bezeichnen würde. Wie sie tatsächlich sein werden, verrät McEwan seinen Lesern nicht. Aber er hat ihnen mit diesem feinfühligen, wie immer flüssig und unterhaltend geschriebenen Roman ein Leservergnügen bereitet, das seinem Ruf als meisterhafter Autor gerecht wird.
Buch
Ian McEwan
«Nussschale»
277 Seiten
(Diogenes 2016).