Stellen Sie sich vor: Sie verschwinden. Nicht in der Rauchwolke eines Zauberers. Zwischen keinem doppelten Boden. Auch nicht nach Goa oder Mendocino in einer Aussteigerlaune. Nein. Sie verschwinden gerade jetzt. Einfach so. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen vor diesem Textanfang, lesen Zeile um Zeile – und Sie verschwinden. Lassen Sie jede Vorstellung nah an sich heran. Werden Sie der Realität untreu. Gönnen Sie Ihren Gedanken einen Fluchtversuch, damit Sie im Nachhinein erkennen, wie täuschend echt Sie verschwunden waren. Aber wohin würden Sie gehen? Oder anders: Wohin lesen Sie sich?
Nach nur wenigen Zeilen spüren Sie möglicherweise die feuchte Tropenluft auf Ihrer Haut, während Ihr rechter Arm Hiebbewegungen wiederholt. Mit der Machete schlagen Sie Schlingpflanzen zur Seite. Über Ihnen flattert ein Schmetterling. Doch die Stille im Buschwerk deutet auf eine Bedrohung hin. Nach nur einem Abschnitt marschieren Sie bereits durch den Regenwald. Die Stirn unter Schweissperlen und die Gedanken noch am Hafen bei Ihrem Schiff, das Sie kurz nach Ihrer Ankunft in Macapá bei einem dubiosen Kartenspiel erworben haben.
Oder Sie befinden sich doch plötzlich in Venedig auf dem Campo Cesare Battisti già della Bella Vienna. Sie sitzen dort in einem Café. Es ist das Jahr 2006, und vor weniger als einer Woche wurde die italienische Fussballmannschaft Weltmeister. Die achteckigen Chioschi feiern das Sportereignis noch immer mit einer bunten Zeitschriftenflut – Campione del mondo! Doch schon vier Jahre später würde die Fussballwelt wieder anders aussehen. An dem besagten Julinachmittag wüssten Sie aber noch nichts davon. Ihr Gegenüber wäre eben vom Cafétisch aufgestanden. Während Ihre ganze Konzentration nun bei der Rechnung unter dem Serviettenhalter liegt. Bei diesem Fresszettel, der doch so viel mehr ist als eine blosse Rechnung. In exakt diesem Lesemoment verlieren Sie sich. Sie schwinden jenem Papiergeheimnis entgegen. Im dritten Abschnitt erkennen Sie mit Gewissheit, dass darauf eine Nachricht hinterlassen ist. Zwei, drei hingekritzelte Worte. Sie geben sich einen Ruck. Sie zupfen «il conto» mit Daumen und Zeigefinger hervor. Und schon im nächsten Moment wüssten Sie es. Die Mitteilung würde in Ihr Hirn sickern. Wie ein Schwamm würden Sie die Unheilsworte aufsaugen: Ich verlasse dich. Da stehen sie. Ja, auch am Ort Ihres Verschwindens gibt es diese drei Worte.
Bis hierhin haben Sie es also geschafft. Bis zu diesem Campo am Canale Grande an einem warmen Julinachmittag im Jahr 2006. Drei blöde Worte, vor denen Sie sich vielleicht seit Monaten, seit Jahren gefürchtet hatten. Die Sie jetzt aber geradezu mit Leichtigkeit überflogen haben. Sie verfluchen die Launenhaftigkeit Ihrer Zeitempfindung. Und natürlich erinnern Sie sich sofort an die Welt vor fünf Jahren zurück. Damals hatten Sie ein inneres Lächeln mit sich herumgetragen. Ganze Wochenenden lang waren Sie zu zweit im Bett untergetaucht. Ohne Kleider hatten Sie auf die ganze Welt gepfiffen und waren daraus verschwunden, ebenfalls verschwunden, hinein in ein Anderswo. Doch jetzt ist die Welt eine andere. Jetzt sind Sie selbst ein Relikt, dem man den Rücken gekehrt hat.
Vielleicht ist das der Preis dafür. Immerhin, Sie haben sich ja darauf eingelassen. Sie haben es in Kauf genommen zu verschwinden. Auch wenn es Ihnen jetzt voller Heimtücke in den Rücken fällt. Diese ganze Verschwinderei. Aber ausgerechnet in Venedig. Ausgerechnet in diesem Text. Deswegen haben Sie bestimmt nicht mit Lesen begonnen. Viel lieber würden Sie doch erleben, wie Sie dem Verlassenwerden mit einem Schulterzucken begegnen, wie Sie der Lagunenstadt Arrivederci sagen, indem Sie am Porto Marghera das erstbeste Schiff besteigen. Sie wollten doch den Amazonas erforschen, Sie wollten beim Kartenspiel einen rostigen Dampfer gewinnen und während einer Expedition zuerst eine neue Insektenart und später eine neue Liebe finden. Deswegen sind Sie verschwunden. Um sich ein Abenteuer zu erlesen. Und jetzt sowas!
Verzeihen Sie. Aber was bleibt Ihnen jetzt noch übrig? Sie könnten sich im nächsten Abschnitt einen Überraschungsmoment herbeiwünschen. Einen sprachlichen Kniff, der die ganze Liebesduselei von vorhin wieder relativiert – ein paar Kleinbuchstaben, geformt zu einem Gedicht:
ein flugzeug trennt das blau oben aus dem bergkamm heraus abgefeuert zerkräuselt das hinterlassene zu luft, zielt weg über ein rundes erdding, planentengespött, käfer seien wir krabbeln aufeinander los rollen, gleiten auf unsere rücken panzerlos verloren verharren wäre eine idee fühler benutzen die andere zertrete nicht die zeitmaschinerie unsere zierlichen körperchen breiig, knirschend, noch surrend nach liebe.
Doch Sie merken schon, es wäre zu spät. Das alles würde nichts mehr nützen. Insbesondere bei einem so sperrigen Lyrikversuch. Somit bleibt Ihnen einzig noch die Hoffnung auf einen Funken wahrer Magie, auf einen thematisch passenden Schluss, bei dem tatsächlich alles wie von Zauberhand zer-
fällt und weg-
rutscht, die
Zeilen zer-
brö-
seln, kipp-
ed au no
chli is Schwii-
zerdüü-
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Martina Clavadetscher
Geboren 1979 in Zug, studierte Martina Clavadetscher Germanistik an der Universität Fribourg. Es folgten ein Stipendium-Aufenthalt in Berlin und Uraufführungen ihrer Theaterstücke in der Schweiz und Deutschland. Seit 2006 lebt und arbeitet sie als Drehbuchautorin, Dramatikerin und Radio-Kolumnistin für SRF 1 in der Zentralschweiz. In der Spielzeit 2013/14 war sie Hausautorin des Luzerner Theaters. Kürzlich erschien ihre Erzählung «Sammler».