An diesem Aprilmorgen scheint es, als hätten die Macher von «Über die Grenze» das Wetter gleich mit ihrem Hörpfad programmiert. Dichter Regen fällt im österreichischen Hard am Bodensee, jenseits der kleinen Bucht vor dem Stedepark haben sich Nebel und Wolken zu einer Mauer geschichtet.
Dahinter sind der See und das gegenüberliegende deutsche Ufer nicht einmal mehr zu erahnen. Auf dem Kopfhörer läuft derweil die Station 8 des Hörwegs «Über die Grenze». Das Kapitel taucht in die rigide Flüchtlingspolitik und den Antisemitismus in der Schweiz um 1940 ein. «Die Schweiz den Schweizern» zeichnet das Bild eines Landes, dem so eine dichte Wolkenwand an den Landesgrenzen nur recht gewesen wäre: Null Sicht auf Krieg und Judenverfolgung.
22 Schülerinnen plädieren für mehr Menschlichkeit
Der Rad-Hörweg existiert seit letztem Sommer und wurde vom Jüdischen Museum Hohenems initiiert. Der Pfad folgt der Vorarlberger Radroute 1 von Bregenz bis nach Partenen. Auf knapp 100 Kilometern laden 52 Hörstationen ein, sich mit Fluchtgeschichten von 1938 bis 1945 zu befassen. Wer also den ganzen Hörweg fahren möchte, tut dies mit Vorteil in Etappen.
Doch bereits die Strecke zwischen Bregenz und Diepoldsau bietet sich als Halb- oder Ganztagestour an, je nachdem, wie viele der rund 20 Stationen des Abschnitts man hören möchte. Im Stedepark läuft jetzt Hörstation 7, «Rorschacher Schülerinnen». Das Kapitel erzählt von 22 Schülerinnen der Mädchensekundarschule Rorschach, die 1942 mit einem Brief an den Bundesrat für mehr Menschlichkeit in der Flüchtlingspolitik appellierten.
Ihr Engagement hatte andere Folgen als erhofft: Kurzerhand liess der Bundesrat sämtliche Schülerinnen verhören, weil er hinter dem Schreiben eine politische Revolte witterte. Am Ufer des Bodensees fährt in diesem Moment eine Gruppe von Radwanderern vorbei. Und während es auf dem Kopfhörer um politische Paranoia und eingeschüchterte Teenager geht, ziehen die Rentner auf ihren Velos die Beine an und rollen mit jugendlicher Sorglosigkeit durch eine grosse Pfütze.
Den grünen Wegweisern der Route 1 folgend
Weiter geht es mit dem Velo, mal rechts und mal links dem Rheindamm entlang. Die Strecke führt hauptsächlich über asphaltierte Wege und einige Kiesabschnitte und ist somit einfach zu fahren. Stets folgt man den grünen Wegweisern der Radroute 1. Die Hörstationen sind als Grenzsteine gestaltet, auf denen sich jeweils Kapitelnummer und Kapitelname sowie ein QR-Code finden.
Letzterer führt zur betreffenden Hörsequenz. Wer keine dieser Stationen verpassen will, lässt sich am besten auf dem Smartphone durch die interaktive Karte führen. Die einzelnen Kapitel dauern jeweils zwischen fünf und zehn Minuten und sind kurzweilig gestaltet. Stets setzen mehrere Sprecherinnen und Sprecher den historischen Rahmen, lesen aus Briefen oder Dokumenten vor. Manches ist als kleines Hörspiel gestaltet, anderswo werden Interviewsequenzen mit Zeitzeugen eingespielt.
Unermüdliche Helfer
Als Zusatzmaterial stehen Fotos und Zeitungsausschnitte, Archiv-Links und Leseempfehlungen zur Verfügung. So erfährt man mal etwas über die unermüdlichen Fluchthelfer Recha und Isaac Sternbuch, mal etwas über die Schweizer Reduit-Festung Heldsberg, mal etwas über den Wiener Schlagerkomponisten Willy Gerber. «Wir haben es geschafft! Hoffe euch alle gesund!», schrieb der seiner Frau nach seiner gelungenen Flucht. Längst nicht alle der Fluchtgeschichten gehen so aus.
Die Strecke führt jetzt dem Alten Rhein entlang, zunächst an Schrebergärten vorbei, später parallel zur Auenlandschaft. Der Regen hat etwas nachgelassen, doch von den Bäumen fallen noch immer dicke Tropfen.
Flucht über den Damm des Alten Rheins
So ungeeignet das Wetter für eine Velofahrt sein mag, so viel intensiver gestaltet es das Hörerlebnis an diesem Tag. Auch bei der Hörstation 20. Hier spricht Susi Mehl, die später unter dem Namen Sophie Haber lebte, in einem Interview von 1997 über ihre Flucht in die Schweiz. Als 16-Jährige stapfte sie an einem regnerischen Oktobertag im Jahr 1938 über sumpfige Äcker und kroch über den Damm des Alten Rheins. Während sie spricht, liegt die Auenlandschaft fast andächtig ruhig da. Doch wie anstrengend die Querung gewesen sein musste, wie gross die Angst, entdeckt zu werden!
Die Geschichte von Paul Grüninger fehlt nicht
Nur wenige hundert Meter weiter gibt es die letzte Hörstation für diesen Tag. Der Grenzstein 23 steht gleich neben dem Zoll Hohenems und ist einem Mann gewidmet, dessen Name auf dem Hörweg immer wieder auftauchte: Paul Grüninger. Der Hauptmann der Kantonspolizei von St. Gallen rettete in den Jahren 1938 und 1939 zahlreiche Flüchtlinge, indem er ihre Einreisedokumente vordatierte oder fälschte. Das führte schliesslich zu seiner Entlassung und machte ihn bis zu seinem Tod zum Geächteten.
Und während Grüningers Geschichte und die damalige Überfremdungsdebatte auf dem Kopfhörer laufen, fahren zwei Sattelschlepper langsam durch den Zoll Richtung Schweiz. Unweigerlich kommen einem Bilder und Berichte der letzten Jahre in den Sinn: von Flüchtlingslagern in Calais und anderswo. Von Menschen, die auf Lastwagen klettern. Und von neuen Überfremdungsdebatten. Die Menschlichkeit hat es wieder einmal schwer.
Rad-Hörweg
www.ueber-die-grenze.at
Buch
Über die Grenze - 52 Fluchtgeschichten zwischen Bodensee und Gebirge – 1938 bis 1945
256 Seiten (Bucher 2023)
Ausstellung
Das Jüdische Museum Hohenems zeigt in der Ausstellung «A Place of Our Own. Vier junge Palästinenserinnen in Tel Aviv» ein Langzeitprojekt der israelischen Fotografin Iris Hassid. Sie begann 2014, vier junge palästinensische Studentinnen mit israelischer Staatsbürgerschaft zu fotografieren und interviewen. Ihre Arbeit spiegelt die Komplexität einer Existenz als Palästinenserin in Tel Aviv und als Frau mit Ambitionen in der israelischen Gesellschaft.
Bis So, 10.3.2024 Jüdisches Museum Hohenems (A)