Und immer wieder denkt man beim Zuhören: Das ist ja die Gegenwart, nicht die Zukunft. «Telescreens» existieren seit langem, eine Art «Gedankenpolizei» trägt der gläserne Mensch heute in Form des Smartphones freiwillig auf sich, der «Neusprech» bildet den aktuellen Sprachwandel ab. Freilich klang all dies 1948, als George Orwell seine Dystopie «1984» herausbrachte, wie Zukunftsmusik. Aus heutiger Sicht aber ist erstaunlich, zuweilen gar erschreckend, was der britische Autor damals vorausahnte und in welchem Detailreichtum er dies beschrieb. Es war und ist wohl auch dieser Umstand, der seinen Roman zum Klassiker machte, dem es bis heute nicht an Brisanz und Aktualität fehlt.
Eine Collage aus Musik, Geräuschen und Text
Wie also geht man vor, wenn man den Auftrag zu einer Neuadaption als Hörspiel erhält? Man versuche, Orwells Denken und Schreiben akustisch ins Heute zu übersetzen, sagt Klaus Buhlert. Der deutsche Hörspielmacher hat sich auf die Umsetzung komplexer Stoffe spezialisiert und brachte bereits Homers «Ilias» oder den «Ulysses» von James Joyce ins Radio. Im Frühling 2020 sorgte er mit der 15-stündigen Adaption von Thomas Pynchons «Die Enden der Parabel» für Begeisterung. «1984» ist damit insofern vergleichbar, als Buhlert erneut das Stilmittel der Collage anwendet, und dies in mehrfach multipler Form. Zum einen hat er Orwells Text seziert und auf neue Art wieder zusammengefügt, indem er mehrere Sprechspuren mit einem Soundtrack aus Musik, Geräuschen und elektronischem Grundrauschen kombiniert. Auch der Text wird – wie allerdings in Hörspielen üblich – von mehreren Stimmen gesprochen, wobei sich der Erzähler (Franz Pätzold) zuweilen mitten in die Sätze der Figuren zwängt. Die Hauptfigur des Winston Smith spricht Felix Goeser passend ambivalent zwischen Coolness, Müdigkeit und Verzweiflung. Als weitere bekannte Stimme spricht Bibiana Beglau die Partei-Durchsagen auf den Telescreens. Mit all diesen und weiteren Sprechenden arbeitet Klaus Buhlert seit längerem zusammen.
Alle feiern den «Grossen Bruder»
George Orwell (1903–1950) erzählt in seinem Roman die Geschichte von Winston Smith, der in London im Ministerium für Wahrheit arbeitet. London gehört zu Ozeanien, das im Krieg mit Eurasien steht und seine Einwohner totalitär beherrscht und kontrolliert. Die Genossinnen und Genossen bejubeln ihren «Grossen Bruder», wer nicht mitjubelt, wird verhaftet, verhört, gefoltert und hingerichtet. Eines Tages findet sich auch Winson Smith, der unerlaubterweise Tagebuch führt und eine Liebelei mit Genossin Julia beginnt, im Gefängnis.
«1984» wurde schon mehrfach verfilmt und fürs Radio bearbeitet. Klaus Buhlert zieht für seine neuerliche Adaption alle Register der aktuellen Hörspiel-Kunst. Die vierteilige CoProduktion von BR und DLF Kultur erfordert Ausdauer, geht unter die Haut, ist aber ein radiofones Ereignis.
hör!spiel!art.mix: 1984
von George Orwell
Adaption, Regie, Musik: Klaus Buhlert
Fr, 29.10., 21.05 BR 2 (weitere Folgen jew. Fr, 5.11./ 12.11./19.11.)
Als Podcast erhältlich: www.br.de