Als Hexe würde sie niemand bezeichnen. Man lebe ja nicht mehr im Mittelalter. Doch – da ist man sich einig im Dorf – eine «Huer» sei sie schon, die Anna Weibel. Schliesslich habe sie keinen Tanz ausgelassen am Liestaler Märt und sich stets einen anderen aufs Parkett geholt. An ihrem Schicksal trage alleine sie die Schuld. Dieser vielstimmige Chor, der sich aber in Einigkeit findet, eröffnet das Hörspiel «S Geburtsverhör».
Die rabiate Praktik wirft ein Schlaglicht auf heute
Die Geschichte der Anna Weibel, die ledig schwanger wird und den leugnenden Kindsvater Heinrich Müller vor Gericht zieht, ist tatsächlich geschehen. Das Hörspiel blendet zurück in den Januar 1827 und erzählt, wie die Klägerin zur beargwöhnten Zeugin wird und schliesslich zur inoffiziell Angeklagten. Weil sich Anna und Heinrich widersprechen, unterziehen Gericht und Kirche die Schwangere einem Geburtsverhör, um mit dem Kind auch die Wahrheit ans Licht zu pressen.
Was sich so rabiat wie vorgestrig anhört, hat durchaus einen Bezug zur Aktualität. Letztlich gehe es um die Stellung der Frau in der Gesellschaft, sagt Päivi Stalder. Die SRF-Hörspielregisseurin ruft in Erinnerung: «Bis heute sind Frauen nicht gleichberechtigt, bis heute gibt es Gewalt an Frauen, bis heute gibt es Lohnunterschiede – die Liste ist lang.» Weshalb aber hat Stalder zur Thematisierung solch brennender Probleme auf einen historischen Stoff zurückgegriffen? Geburtsverhöre würden von der offiziellen Geschichtsschreibung tabuisiert, erklärt sie. «Deshalb darf und muss man zeigen, was einmal war, und Fragen nach dem Heute stellen.»
Zu Geburtsverhören griffen staatliche und kirchliche Behörden in der Schweiz bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Eruieren des Erzeugers sollte sie davor bewahren, für uneheliche Kinder sorgen zu müssen. Im Fall der Anna Weibel zeigte sich, dass sie tatsächlich von Heinrich Müller geschwängert wurde. Alles geschah sogar in Liebe, doch Heinrichs Vater stellte klar: «Ein Müller heiratet keine Weibel!» Dieses Romeo-und-Julia-Motiv macht den «Fall Anna Weibel» zusätzlich interessant, was die Basler Autorin Linda Stibler veranlasste, ihn literarisch umzusetzen. Aus dem Roman von 2007 machte Dramaturgin Ursula Werdenberg ein Dialektstück, das 2014 in Liestal uraufgeführt wurde.
Soundtrack aus Geräuschen und Chören
Das Hörspiel basiert auf diesem Stück. Doch Päivi Stalder betont: «Der Text war nicht radiotauglich, weshalb uns Ursula Werdenberg eine Hörspiel-Fassung schrieb.» Diese ist eine Collage aus der Gerichtsverhandlung, Rückblenden in die romantische, aber unglückliche Liebesgeschichte sowie innere Monologe der Protagonisten. Als Klammer wirkt ein eindrücklicher Soundtrack des Basler Musikers Elia Rediger, der mit der Band The Bianca Story bekannt wurde. Päivi Stalder holte ihn bereits zum dritten Mal für eine Hörspielproduktion ins Studio. «Ich weiss, dass Elia stets Neues wagt. Hier hat er nach passenden Tönen und Geräuschen gesucht, alte Tänze adaptiert und einen Männerchor erfunden.» Redigers Tonspur klingt zuweilen sehr modern, was ganz in Stalders Sinn ist. Damit verbindet er den historischen Stoff mit der Gegenwart.
S Geburtsverhör
Von Ursula Werdenberg
Regie: Päivi Stalder
Mo, 10.9., 14.06 Radio SRF 1