Wer kennt sie nicht, die wehmütigen Gefühle beim Anschauen alter Fotos. Je nach emotionalem Schärfegrad kippt das Wiedererleben in Freude, Trauer oder gar Schmerz. «Mein Starren auf das Foto löst eine Flut von Geräuschen aus», schreibt Annie Ernaux (79) im Buch «Erinnerung eines Mädchens». In der Hörspiel-Adaption von Irene Schuck übergiesst diese Flut geräuschhaft das Gesagte. Ernaux’ Text wird in der Produktion des Südwestrundfunk (SWR) zum klangvollen Hörfilm.
Die «unbeschreibliche Leerstelle» eines Sommers
Mit ihrer schmerzhaften «Selbsterzählung» wagte sich die französische Autorin zurück in den Sommer 1958, den sie ein Leben lang verdrängt hatte. Nach 20 literarischen Texten aber, in denen sie ihre Biografie so varianten- wie erfolgreich aufgearbeitet hatte, spürte sie die «unbeschreibliche Leerstelle» jenes Sommers als «lebensnotwendiges Schreibvorhaben» und entschloss sich zu ihrem «allenfalls letzten Buch meines Lebens». 2016 im Original und 2018 auf Deutsch erschienen, gilt «Erinnerung eines Mädchens» als Annie Ernaux’ bislang erfolgreichstes Buch. Und als eines der komplexesten.
Erzählt sie in anderen Texten wie «Die Jahre» (2008), «Der Platz» (1983) oder «Eine Frau» (1988) analytisch und linear, liest sich «Erinnerung eines Mädchens» als Gefüge verschiedener Perspektiven und Stimmen. Hier leistet Hörspielmacherin Schuck Verständnishilfe, indem sie dem Mädchen (Anna Drexler) und der Erzählerin (Hedi Kriegeskotte) deutlich unterscheidbare Sprechstimmen zuordnet. Der für Ernaux typische Einbezug des kollektiven Gedächtnisses klingt im Hörspiel anhand dokumentarischer Einspielungen und vor allem zeittypischer Musik an. Hinzu kommen Ton-Effekte, die der zeitlichen und örtlichen Orientierung dienen.
Ernaux’ Text umfasst den Zeitraum vom Sommer 1958 bis Anfang 1963 und wechselt zwischen dem Wohnsitz ihrer Eltern in der Normandie, einem Ferienlager im Département Orne sowie Aufenthalten in Rouen und London. Das Geschehen kreist um eine Nacht in besagtem Ferienlager, wo die 18-Jährige von einem etwas älteren Betreuerkollegen vergewaltigt wird. Dieser Übergriff stösst das Mädchen in einen traumatischen Gefühlswirbel, der im Beschluss der heranwachsenden Jungautorin gipfelt: «Ich wollte dieses Mädchen vergessen.»
Schmerzvolle Erinnerungsarbeit
Der Prozess, wie sich das einst Verdrängte 50 Jahre später doch als literarischer Stoff meldet, wird im Text ebenso erlebbar wie die schmerzhafte Erinnerungsarbeit. Dieser entlang schreibt sich Ernaux, ausgehend vom Schwarz-Weiss-Foto aus dem Sommer 1958 bis hin zur programmatischen Frage: «Ist sie ich, bin ich sie?» Das Hörspiel gibt dieser Erinnerungsarbeit den stimmig prominenten Platz und schliesst mit jenen Worten von Ernaux, die ihre besondere Art des Schreibens auf den Punkt bringen: «Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die es Jahre später annimmt.»
Hörspiele
Erinnerung eines Mädchens
Nach dem Buch von Annie Ernaux
Hörspielbearbeitung und Regie: Irene Schuck
SWR 2020
So, 3.5., 18.20 SWR 2
Die Jahre
Nach Annie Ernaux
Regie: Luise Voigt
HR 2018
Sa, 2.5., 15.05 BR 2