Die Frage bleibt ungelöst, die Suche ohne Erkenntnis. «Wer hat 1960 den Grossvater an die Sowjets verraten und damit seine Verhaftung verschuldet?», fragt sich die Ich-Figur in Maxim Billers Roman «Sechs Koffer». Dieses Ich, das als Maxim Biller deklariert ist, entwickelt sich über die sechs Kapitel vom fünfjährigen Buben hin zum erwachsenen Autor, von 1965 bis 2016. Die Koffer-Kapitel entsprechen sechs verschiedenen Perspektiven aus Billers weit verstreuter Familie.
Als historisch-politischer Krimi erzählt
Biller ist Spezialist für autofiktionale Texte, was ihm auch schon zum Verhängnis wurde. Sein Roman «Esra» von 2003 wurde nach der ersten Auflage wegen Persönlichkeitsverletzung gerichtlich verboten. Auch als Kolumnenschreiber im Magazin «Tempo» und als Mitglied des «Literarischen Quartetts» im ZDF hat sich Biller wiederholt als Provokateur in Szene gesetzt. Mit «Sechs Koffer», 2018 als Roman bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, zeigt er sich aber als unaufgeregt autofiktionaler Erzähler, der die tragische Geschichte seiner Familie als historisch-politischen Krimi erzählt. Einer Familie wohlgemerkt mit russisch-jüdischem Ursprung, die es im Kalten Krieg auseinandergerissen hat.
Biller selbst wurde 1960 in Prag geboren, später zog die Familie nach Hamburg, heute lebt er in Berlin. Seine drei Onkel flohen früh in den Westen und landeten in Brasilien und Zürich. Der Grossvater blieb im Osten und betrieb illegale Im- und Exporte von Waren und Devisen. 1960 wurde er verhaftet und kurz darauf hingerichtet.
Die Frage, wer ihn verraten hat, treibt die ohnehin schon zerfledderte Familie über Jahrzehnte um. Darunter leidend, macht sich Maxim Biller auf die Suche nach der Wahrheit, die ihn durch Raum und Zeit treibt und mithin durch die neuere europäische Geschichte.
Die Wahrheit erweist sich als vielfältig schimmernd
Wer einen derart komplexen Roman als Hörspiel inszenieren will, steht vor grossen Herausforderungen. Wie bringt man die zahllosen Orte, Zeitebenen und Figuren zum Klingen, damit sie erkennbar bleiben? Walter Adler bleibt nah am Text, akzentuiert diesen aber mit gut zuzuordnenden Charakterstimmen wie Ulrich Noethen als Vater Sjoma Biller, Corinna Kirchhoff als Mutter Rada, Judith Engel als Tante oder Sylvester Groth als Maxim Biller. Deren Gespräche, Monologe und Gedanken illustriert Adler Sinn gebend mit einer Tonspur aus erhellenden Geräuschen (etwa authentischen Stations-Ansagen im Zürcher Tram) und atmosphärischer Musik. So wird die vertrackte Geschichte zum eingängigen, mit zwei anderthalbstündigen Teilen aber auch sehr langen Hörgenuss.
Maxim Billers Suche nach der Wahrheit endet ernüchternd. Denn diese erweist sich als so vielfältig schimmernd wie die Zeit, in der sie zu finden sein soll. In den sechs Koffern schlummern unendlich viele weitere Geschichten und Schicksale, welche die Komplexität des menschlichen Daseins ausmachen. Maxim Biller hat diesen Umstand treffend in Worte gepackt, die Walter Adler nun als packenden Hörfilm präsentiert.
Sechs Koffer
Regie: Walter Adler
So/Mo, 4.4./5.4., 18.20 SWR 2