Mitte des letzten Jahrhunderts begannen wagemutige junge Musiker damit, ihre Notenblätter von den Lesepulten zu schubsen. Sie folgten dem Zeitgeist des «anything goes», wollten frei und ungezwungen musizieren. Die Improvisation eroberte die populärmusikalischen Szenen der USA und Europas als Untermalung der antibürgerlichen Protestbewegung. Anfangs belächelt als wirre Clownerie oder verurteilt als Lärm, wird die Improvisation zuweilen bis heute gegen die «wahre» Kunst des «richtigen» Musizierens ausgespielt.
Dabei ist sie selbst eine etablierte Kunstform, wie der «Hörpunkt» von Radio SRF 2 Kultur aufzeigt. Im sechsstündigen Programm sind Jazzer wie Gitarrist Wolfgang Muthspiel und Holzbläser Domenic Landolf zu hören. Die Weltmusiker Ken Zukerman (Sarod) und Shrirang Mirajkar (Tabla) vertiefen sich in indische Ragas. Das Berner Experimental-Duo Reben improvisiert mit Laptops, Jörg-Andreas Boetticher bearbeitet sein Cembalo.
Freie Improvisation
Auch der Barockmusiker passe gut in diesen Reigen von Musikern, die «in Echtzeit komponieren», sagt Lucas Niggli. Der Zürcher Schlagzeuger und Perkussionist muss es wissen, er unterrichtet «Freie Improvisation» an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. «In der Musik wird seit Jahrhunderten improvisiert», betont er. «Bei den Kadenzen der Solisten in einem klassischen Konzert, bei den Fugen auf der Kirchenorgel, aber auch bei Jazz-Standards spricht man von idiomatischer Improvisation: Rhythmus, Tonalität und Harmoniestrukturen sind vorgegeben», erklärt Niggli. «Im Gegensatz dazu funktioniert die Freie Improvisation, die im 20. Jahrhundert entstanden ist, gänzlich ohne Regeln. Dies bedeutet nicht, dass sie keine Verbindlichkeit hat. Man musiziert im Hier und Jetzt, ist hoch konzentriert, spielt aber intuitiv. In den besten Momenten solchen Zusammenspiels ist nicht mehr klar, ob man am Agieren oder am Reagieren ist.»
Niggli improvisiert seit gut 25 Jahren mit Musikern aus aller Welt. Oft tut er dies mit Kollegen, die Jazz und Barockmusik mischen. So spielt er im aktuellen Projekt «Le Miroir du Temps» des bekannten französischen Serpentspielers und Jazztubisten Michel Godard.
Gehörbildung
Als Dozent gibt er seine Erfahrungen an Klassik-Studenten der ZHdK weiter. Die Zürcher Hochschule gelte diesbezüglich – zusammen mit Luzern und Basel – als internationale Vorreiterin. «Freie Improvisation ist hier seit über 20 Jahren Pflichtfach für alle Klassik-Studierenden», betont Niggli und erklärt, warum dies Sinn macht. «Freie Improvisation ist Gehörbildung, schult die Interaktion und die Wahrnehmung des Ensemblespiels. Sie fördert Ausdruck, Musikerpersönlichkeit und Risikobereitschaft.» Die eigentliche Kunst der Improvisation sei das Erlangen einer Haltung, die sich positiv auf die musikalische Qualität, egal welchen Stiles, auswirke. Wer etwa ein Brahms-Quartett mit dieser Haltung interpretiere, lasse sein Publikum aufhorchen.
Am «Hörpunkt»-Tag von Radio SRF 2 Kultur sind neben der Musik auch Expertengespräche sowie Hör- und Lesetipps programmiert.
Radio
«Hörpunkt»-Tag: Die Kunst der Improvisation
Mi, 2.3., 09.00/17.00 Radio SRF 2 Kultur
www.srf.ch/sendungen/hoerpunkt
Konzert
Le Miroir du Temps
Do, 24.3., 20.30 Central Uster ZH
www.pam.nu