Berlin liegt fünf Kilometer nordöstlich von Solothurn an der Aare. Zumindest könnte das meinen, wer das Attisholz-Areal betritt. Wie in manchem Berliner Hinterhof zieren bunte Wandgemälde Gebäude, die steil in die Höhe wachsen. Ein Strassenschild weist die Hauptachse durch das ehemalige Fabrikgelände als «Boulevard» aus. Wie treffend. Zwar sind die bunten Sonnenschirme der Strassencafés an diesem Frühlingsmorgen noch zu. Doch die kleine Stadt mit ihrer Geschichte erwacht: Im Kopfhörer ertönt die erste Station des Hörpfads «Attisholz im Ohr».
Fast 130 Jahre lang wurde auf dem Attisholz-Areal industriell Zellulose hergestellt. Als die Produktion 2008 eingestellt wurde, stand die Fabrik zunächst leer. Erst ab 2018 wurde das Gelände als Kulturort für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In diese Geschichte entführt einen seit Anfang Mai «Attisholz im Ohr». Der Hörpfad wurde von den beiden Kulturwissenschafterinnen Melissa Flück und Simone Crevoisier sowie dem Musiker und Sounddesigner Christian Sommerhalder entwickelt. Die Hörerinnen und Hörer sollen erfahren, wie sich das Areal verändert hat, sagt Melissa Flück. «Vor allem wollen wir jene Menschen hörbar machen, die einst hier arbeiteten oder dies heute tun.»
Das verschachtelte Areal beeindruckt noch heute
Die Reise durch ein Stück Schweizer Industriegeschichte beginnt bei der alten Drehscheibe am Eingang. Die Informationstafel des Hörpfads erklärt, wie es funktioniert: Mit dem Smartphone den QR-Code auf der Tafel scannen. Schon landet man wahlweise auf der Homepage oder der App-Version von «Izi.travel». Jetzt noch den Ortungsdienst des Smartphones aktivieren, und die Karte der Plattform führt den Spaziergänger zu den zehn Standorten. Für ein ungestörtes Hörvergnügen lohnt es sich übrigens, Kopfhörer mitzubringen. Einmal unterwegs, entdeckt man die einzelnen Hörstationen dank den Tafeln mit den Piktogrammen ohne Problem.
Station 1, auf dem «Boulevard». Ruth Stampfli, einst im Einkauf der Firma Cellulose Attisholz tätig, erzählt von ihrer Zeit auf dem Areal. «Man musste schon viel im Betrieb sein, um die Orientierung behalten zu können», erinnert sie sich. Und berichtet von den unzähligen Ebenen des Geländes und der Kollegin, die ihr manchmal half, den Weg in eine andere Abteilung zu finden. Das lässt sich auch gut nachvollziehen: Das verschachtelte Areal beeindruckt mit seiner Grösse. Der «Boulevard» mündet schon wenige Meter weiter vorne in einen dunklen Tunnel, über dem ein verrosteter Kran thront. Hier hoch, zum ikonischen Säureturm und dem neuen Kinderspielplatz, führt einen der Rundgang als Nächstes.
Eindrücke verschränken sich mit Erzählungen
Die einzelnen Stationen von «Attisholz im Ohr» sind in die Fabriklandschaft eingepasst. Wenn man während des Hörens mit offenen Augen über das Gelände geht, verschränken sich die Eindrücke mit den Erzählungen. Zudem macht auch die thematische Breite der drei- bis vierminütigen Beiträge den Rundgang kurzweilig. Jemand erinnert sich an den Patron Sieber, andere berichten von der Entstehung der Kulturszene oder der Idee zur ersten Bar auf dem Areal. Manches davon bringt einen zum Schmunzeln. Etwa wenn Ruth Stampfli das «Krawattensilo» und weiteren Jargon der «Attishölzler» aufleben lässt. Anderes lässt einen über das Thema Arbeit und Wertschätzung nachdenken. Wie ein Refrain hört man immer wieder: Wer hier arbeitete, war stolz drauf. «Es ist sicher eines unserer Ziele, dass Besucher auch über die eigene Position in der Arbeitswelt nachdenken», sagt Melissa Flück. In den Gesprächen, die sie für das Projekt geführt habe, sei der Zusammenhalt der «Attishölzler» stark deutlich geworden. «Fast alle sagten, dass diese Firma für sie wie eine Familie oder Heimat war.»
Station 6, der Tunnel. Wasser liegt in Pfützen zwischen den alten Industriegleisen. Graffiti-Künstler haben die Wände mit bunten Schriftzügen und ulkigen Figuren verziert. Hier kommt der Zürcher Streetart-Künstler Corso Bertozzi zu Wort. Ein Beispiel dafür, dass «Attisholz im Ohr» auch kritische Themen nicht unterschlägt. Bertozzi führt in die Sprayer-Kultur ein. Dabei spricht er auch an, was in Zwischennutzungen fast immer passiert: Künstler erobern sich neue Kulturräume, um danach von der Kommerzialisierung verdrängt zu werden.
«Attishölzler» bleibt man ein Leben lang
Station 10, die andere Flussseite. Der Fussgängersteg der alten Eisenbahnbrücke führt einen hierhin. Über diese Gleise rollte einst das Holz auf Güterwagen vom riesigen Lagerplatz zur Fabrik. Jetzt wachsen Gräser und kleine Sträucher zwischen den Schienen. Markus Morand arbeitete als Maschinist auf dem Holzplatz. Er erzählt vom Lärm, den die Entrindungstrommel machte: «Weit, weit hat man die gehört, wenn wir am Morgen um fünf anfingen.» Morands Erzählung weckt Erinnerungen an alte Fernsehberichte über die Fabrik. Lärm und Gestank waren für die Menschen in den umliegenden Gemeinden jahrzehntelang eine Pein.
Heute rumpelt es am Aare-Ufer nicht mehr, und es qualmen keine Schornsteine. Das Attisholz-Areal spiegelt sich friedlich in der Aare, während Markus Morand weiter von seiner Zeit als Angestellter der Zellulosefabrik erzählt. Bis zum Schluss arbeitete er hier. Dabei sei er sich zu Beginn sicher gewesen: An diesem Ort werde er nicht alt. «Dann wurden es halt 30 Jahre.» Jetzt, als eine der Stimmen des Hörpfads, werden wohl noch einige Jahre mehr dazukommen. Und «Attishölzler» bleibt man eh ein Leben lang.
Attisholz im Ohr
Attisholz-Areal Riedholz SO
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