«Blickt er fassungslos, entsetzt oder bloss traurig?» Brigitte Klötzli fragt pedantisch nach, weil sie das muss. Gerade hat sie eine Szene aus dem Schweizer Spielfilm «Der Büezer» gehört und will von Susanne Fehr-Wehrli mehr zum Gesichtsausdruck von Protagonist Sigi wissen. Die beiden Frauen arbeiten als Co-Autorinnen an der Audiodeskription des Kinofilms von Hans Kaufmann, den SRF im Zweikanalton zeigen wird. Brigitte Klötzli ist sehbehindert, Susanne Fehr-Wehrli ist sehend, die Aufgabenteilung ist klar. «Ich frage nach den nötigen Informationen, um den Film zu verstehen», erklärt Klötzli. «Gemeinsam erarbeiten wir einen Erklärtext, den meine Kollegin dann schriftlich formuliert.»
Was derart einfach klingt, ist eine sprachliche und technische Herausforderung. «Unsere Beschreibtexte müssen auf der Tonspur zwischen Dialogen und Musik Platz finden», sagt Susanne Fehr-Wehrli.
«Geräusche sind oft selbsterklärend»
«Diese Ergänzung des Filmtons ist die Crux unserer Arbeit», betont Urs Lüscher, Gründer und Geschäftsführer des Vereins Hörfilm Schweiz, an dessen Sitz im zürcherischen Uster die beiden Autorinnen am Werk sind. Was er damit meint, zeigt sich in der nächsten Film-Szene. «Sigi schlurft den Gang entlang», beschreibt Susanne Fehr-Wehrli. «Aber das Schlurfen hört man ja, das müssen wir nicht beschreiben», interveniert Brigitte Klötzli und erklärt: «Geräusche sind oft selbsterklärend. Nicht zu hören sind Mimik und Gestik der Schauspieler.» Joel Basman, der den Sigi im «Büezer» spielt, sei diesbezüglich eine Knacknuss. «Seine Mimik ist sehr fein, aber ausdrucksstark, und dies will ich beschrieben haben», sagt Brigitte Klötzli. Mittlerweile hat Susanne Fehr-Wehrli das «Schlurfen» raus-gestrichen. Sie liest den neuen Text, vor sich auf dem Monitor den Film im Format des Schnitt-Programms «Reeper» mit laufendem Time-Code. «Passt!», sagt sie zufrieden. Und Brigitte Klötzli lacht: «Gelernt ist halt gelernt.»
Klötzli ist Handarbeitslehrerin, Fehr-Wehrli kaufmännische Angestellte. Die Kunst des Audiotranskribierens haben sie von Fachleuten des Bayerischen Rundfunks gelernt. «Das sind die Hörfilm-Cracks im deutschsprachigen Raum», weiss Urs Lüscher. Das Verfahren der Audiodeskription sei erst 1989 in den USA entwickelt worden. Das zunehmende Bedürfnis nach kultureller Teilhabe habe auch die Welt der Bilder erfasst. «Gleichstellung und Inklusion bedeuten auch, dass Blinde und Sehbehinderte spontan ins Kino gehen können.» Der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV), bei dem Urs Lüscher als Regionalsekretär arbeitet, sei deshalb in stetiger Verhandlung mit den Film-Produzenten.
380 000 Sehbehinderte, davon 50 000 Blinde
«Die SRG verpflichtet sich aktuell, 800 Sendestunden pro Jahr mit Audiodeskription anzubieten», sagt Lüscher. Das potenzielle Publikum umfasse in der Schweiz rund 380 000 Sehbehinderte, davon 50 000 Blinde. Bei Kino-Produktionen funktioniere die Vorgabe über die Beiträge des Bundesamtes für Kultur. Urs Lüscher: «Dokfilme müssen ab einem Bundesbeitrag von 125 000 Franken eine audiodeskribierte Version anbieten, Spielfilme ab 350 000 Franken.»
Beim Verein Hörfilm Schweiz kostet eine Audiodeskription zwischen 6000 und 10 000 Franken. Auf das Erstellen der Texte folgt deren Redaktion, dann das Einlesen durch Profisprecher und das exakte Einpassen im Tonstudio. «Wir bezahlen all unsere Beteiligten», betont Urs Lüscher. Nur er als Vereins-Administrator und Redaktor verdiene nichts. Dies habe mit seiner Grundhaltung zu tun. «Der Aspekt des Gewinngenerierens steht nicht im Vordergrund. Deshalb habe ich auch einen Verein gegründet und keine Firma.»
Hörfilm Schweiz hat dennoch Konkurrenten. In der Schweiz ist dies die SRG-Tochter Swiss TXT, hinzu kommen Billiganbieter aus Deutschland. «Unsere Spezialität ist die Deskription von Mundartfilmen in Mundart», sagt Lüscher und weist darauf hin, dass sein Verein auch in anderen Bereichen aktiv ist. «Wichtig ist uns jene Qualität, die nur erreichbar ist, wenn sehbehinderte Personen mitarbeiten», sagt er, der seit seinem 36. Lebensjahr selbst sehbehindert ist.
Die Leerstellen auf der Tonspur
Brigitte Klötzli und Susanne Fehr-Wehrli diskutieren derweil über Grundsätzliches. «Sigi steht im Schiessstand und blickt nach vorne», beschreibt Fehr-Wehrli. «Nach vorne oder geradeaus?», fragt Klötzli. Eine für Sehende verwirrende Frage, welche die Grenzen der Beschreibbarkeit aufzeigt. «Wenn man von ‹vorne› spricht, muss dieses ‹vorne› zuerst verortet werden», versucht Lüscher zu erklären. Abstrakte Begriffe könnten sich geburtsblinde Personen kaum vorstellen, im Gegensatz etwa zu Formen oder Gerüchen, die sinnlich wahrnehmbar seien. «Einen Horizont kann man nicht beschreiben, den muss man gesehen haben», sagt er, betont aber: «Jeder Film lässt sich deskribieren, je nachdem aber mit Abstrichen.» Susanne Fehr-Wehrli lacht: «Einen James Bond möchte ich nicht beschreiben müssen, da finden sich kaum Leerstellen auf der Tonspur.»
In Uster ist Mittagspause angesagt. Die beiden Autorinnen sind zufrieden mit ihrem Werk. An einem 90-Minuten-Film arbeiten sie rund 40 Stunden. Sprecher und Toningenieur benötigen nochmals bis zu sechs Stunden. Ein Aufwand, der geschätzt wird. Die Audiodeskription der SRF-Serie «Frieden» ist für den Deutschen Hörfilm-Preis nominiert. Die Verleihung hätte im März stattfinden sollen, ist Corona-bedingt aber verschoben worden. Urs Lüscher gibt sich geduldig: «Ich freue mich über jedes Projekt, und bald schon stehen die nächsten an.»
www.hoerfilm-schweiz.ch
www.deutscher-hoerfilmpreis.de
«Frieden» ist als Hörfilm zu finden auf:www.playsuisse.ch
Weit mehr als Filme
Der Verein Hörfilm Schweiz ist 2016 von Urs Lüscher gegründet worden mit dem Ziel, blinden und sehbehinderten Personen die Welt der Bilder zugänglich zu machen. Nebst Kino- und Fernsehfilmen werden auch Theaterstücke, Ausstellungen oder Tagungen deskribiert. Zu den Kunden zählen nebst SRF und Filmproduktions-Gesellschaften etwa das Museum Tinguely in Basel, das Museum Rietberg in Zürich, das Theaterorchester Biel/Solothurn oder das Zürcher Theater Spektakel. Hörfilm Schweiz bietet komplett produzierte Deskriptionen an. Im Krisenjahr 2020 hat der Verein nur sechs Spielfilme deskribiert, zudem TV-Serien wie «Wilder», «Tierärztinnen», «Advent» oder «Frieden».