Viele Kurzgeschichten setzen auf einfache Stilmittel wie Humor, Spannung und eine krönende Pointe. Nicht so die Erzählungen des chilenischen Ausnahme-Autors Roberto Bolaño (1953–2003): Er verzichtet auf Effekthascherei und zeichnet in seinen Texten das Bild einer düsteren, melancholischen Welt, deren Soundtrack eine beklemmende Stille ist.
Unverhohlene Traurigkeit zieht sich durch die 13 Geschichten, die posthum auf Deutsch erschienen sind. In «Mörderische Huren» schreibt Bolaño über solche, die am Abgrund stehen, die vor dem Leben und sich selbst flüchten. Dabei lässt der Autor für seine Leser immer ein Hintertürchen offen – und damit viele Interpretationen zu.
Tiefe Abgründe
Bolaño gibt denjenigen ein Gesicht, die eine dem Niedergang geweihte Geschichte haben, den kümmerlichen Existenzen in der Gosse. Seien dies Freudenmädchen, gealterte Pornostars oder reuige Journalisten. Der Autor blickt hinter die Fassade der Protagonisten: Ob Bordelle in Indien, in denen zwangskastrierte Lustknaben festgehalten werden, ein mystischer Voodoo-Zauber, mit dessen Hilfe drei Fussballprofis ihre Karriere ankurbeln, oder ein Vater-Sohn-Gespann, das in Acapulco dem Tod entgegenschlittert – die Schluchten in Bolaños Fantasie sind abgrundtief. Der Autor gibt verlorenen Seelen eine Stimme und schafft Raum für menschliche Schwächen. In den fragmentarischen Erzählungen wandeln die Protagonisten, in deren Mitte der Autor oft selber steht, durch eine Welt, in der die Menschen die Hoffnung aufgegeben haben – in einer von Gott verlassenen, trostlosen Realität.
Sprachliche Höhen
Mit sprachlicher Vielfalt, Wucht und Kraft bringt der Chilene seine Geschichten aufs Papier. Bolaños Texte – sei dies sein Meisterwerk «2666» oder «Mörderische Huren» – strotzen vor Details, die von seiner Beobachtungsgabe und seiner stilistischen Treffsicherheit leben: «Als ich sie schüttelte, war ich total überrascht. Seine Rechte, die ich weich und unsicher erwartet hatte, wie bei jedem beliebigen Jugendlichen, bot sich der Berührung als eine Häufung schwieliger Verdickungen dar, die sich metallisch anfühlten, keine besonders grosse Hand, eigentlich, wo ich jetzt daran denke, jetzt, da ich zu jener Nacht in den Randbezirken von Irapuato zurückkehre, ist das, was ich vor mir sehe, eine kleine Hand, eine kleine, vom spärlichen Schimmer der Bar umgebene, gesäumte Hand, eine Hand, die aus einem unbekanntem Woher auftaucht, wie der Fangarm eines Unwetters, nur hart, stahlhart, eine auf Esse und Amboss geschmiedete Hand.» Bolaño neigt, wenn auch immer verständlich, zu Schachtelsätzen, die wohl im lauten Pendlerzug erst beim dritten Lesen richtig gedeutet werden können.
Letzte Aufzeichnungen
Der Leser kann den Arbeiten des 2003 mit 50 Jahren viel zu früh verstorbenen Chilenen autobiografische Züge zuschreiben. Auch Bolaño war ein Getriebener, ein Suchender, der die Schauplätze seiner Geschichten abgeklappert hat. So spielen sein Geburtsland Chile und die Stadt seines Todes, Barcelona, zentrale Rollen in seinen Geschichten. Der Autor steht zwar immer über der Erzählung, befindet sich aber oft auch mittendrin und lässt sein Alter Ego zuweilen aus der Ich-Perspektive erzählen.
Ein Alter Ego, das man in Zukunft vermissen wird. Nach dem Weglegen des Bandes kommt ein bisschen Wehmut auf, dass nun die letzten Aufzeichnungen des verstorbenen Chilenen ins Deutsche übersetzt wurden und man die Hoffnung auf neuen Stoff begraben muss.
Roberto Bolaño
«Mörderische Huren»
224 Seiten
(Carl Hanser 2014).