Hildegard E. Keller - «Das Leben ist bunter, als man denkt»
Hildegard E. Keller, die Germanistikprofessorin im Kritikerteam des SRF-«Literaturclub», liebt vor allem Entdeckungen. Sie schlägt kühne Bogen von der mittelalterlichen Mystik zur modernen Belletristik.
Inhalt
Kulturtipp 26/2012
Rolf Hürzeler
«Das Phantom des Alexander Wolf»: Hildegard E. Keller stellte dieses Buch des verstorbenen russischen Autors Gaito Gasdanow im letzten «Literaturclub» vor. Es handelt von einem tragischen Zwischenfall im russischen Bürgerkrieg, der den Überlebenden Jahrzehnte später einholt. Keller verkauft die aufrüttelnde Geschichte dem Fernsehpublikum in einfachen Worten ohne Sentimentalität. Seit einem halben Jahr ist die Ostschweizerin Mitglied des &l...
«Das Phantom des Alexander Wolf»: Hildegard E. Keller stellte dieses Buch des verstorbenen russischen Autors Gaito Gasdanow im letzten «Literaturclub» vor. Es handelt von einem tragischen Zwischenfall im russischen Bürgerkrieg, der den Überlebenden Jahrzehnte später einholt. Keller verkauft die aufrüttelnde Geschichte dem Fernsehpublikum in einfachen Worten ohne Sentimentalität. Seit einem halben Jahr ist die Ostschweizerin Mitglied des «Literaturclub»-Kritikerteams mit Elke Heidenreich und Rüdiger Safranski unter der Leitung von Stefan Zweifel. Seit vier Jahren sitzt sie zudem in der Kritikerrunde des Klagenfurter Literaturwettbewerbs, den 3 sat jeden Sommer live überträgt.
Für all das muss Keller viel lesen, wie sie sagt. Manchmal bis zu zehn Bücher zur Vorbereitung eines «Literaturclub», um sich schliesslich für das am besten geeignete zu entscheiden. «Ich muss von einem Werk wirklich überzeugt sein, um es zu vertreten.» Sie habe diesen Aufwand zwar unterschätzt. Aber genügend Zeit zum Lesen wird sie finden, denn sie pendelt zwischen der amerikanischen Stadt Bloomington (Indiana) und ihrem Wohnsitz Zürich hin und her. Keller lehrt an der US-Universität und in Zürich deutsche Literatur.
Vielfältig interessiert
Da kommt also eine aus der Ostschweiz und will Amerikanern die frühe deutsche Literatur erklären. Mittelalterliche Mystik für US-Amerikaner, was soll das? Keller hält die Frage für grundfalsch: «Natürlich finden die das spannend.» Das Leben sei eben «bunter, als man denkt».
Hildegard E. Keller recherchierte etwa das Leben des Dominikaners Heinrich Seuse (1295–1366), der auf der Klosterinsel bei Konstanz lebte. Sie verfasste ein Buch, das auch ein Hörspiel mit mittelhochdeutschen Originalzitaten enthält, die sie selbst spricht. Die Wissenschaftlerin stellt das Leben eines Mannes vor, der nach den Regeln der «Hochschule der Gelassenheit» zu leben versuchte und durch die Begegnung mit einem Hund wertvolle Anregungen erhält. Eine ungewöhnliche Geschichte, die den Zugang in eine unbekannte Gedankenwelt erleichtert. «Ich finde die Mystik ein wunderbares, spirituelles Erbe, das ich den Menschen gerne erschliesse», sagt Keller. Sie will sich dennoch nicht auf Mystik reduzieren lassen. So schreibt sie auch an einem Buch über die gebürtige Tessinerin Alfonsina Storni, die vor 100 Jahren als Kolumnistin, Theaterautorin und Lyrikerin ein Leben in Argentinien führte. Denn Hildegard E. Keller studierte zuerst spanische Literatur, bevor sie ihr Herz für ältere deutsche Texte entdeckte.
Diskussionsfreudig
Von all dem wird sie im «Literaturclub» kaum viel erzählen. Dafür diskutiert sie in der Runde über aktuelle Literatur. Zu Beginn war sie eher zurückhaltend, dann legte sie eher zu an Heftigkeit. Das muss sie, um mit dem geschliffenen Mundwerk einer Elke Heidenreich mithalten zu können. Deren Heftigkeit scheint Hildegard E. Keller nicht zu fürchten, denn «es macht die Sendung lebendiger».