Ein weiblicher Körper, aufregend wie eine spektakuläre Landschaft. Oder die Zeichnung Hunderter von Menschen, die vor mehr als 70 Jahren nachts in den Londoner U-Bahn-Stationen Schutz vor den deutschen Bomben suchten. Diese beiden Werke dokumentieren die Vielfalt von Henry Moores Arbeiten, von einem Besessenen, der schier unzählige Werke aller Kaliber hinterlassen hat – von monumentalen Skulpturen bis zu filigranen Skizzen und Lithografien. Henry Moore (1898–1986) ist heute im öffentlichen Raum omnipräsent, zumindest in Grossbritannien. «Schoolyard Artist» nannten ihn Spötter, «Pausenplatz-Künstler», weil seine Werke zu englischen Schulanlagen gehören wie die Kletterstangen. Oder positiver formuliert: Henry Moore artikulierte eine künstlerische Sprache, die fast überall verstanden wird – kosmopolitisch im besten Sinn des Wortes.
Mitfühlende Humanität
In der Schweiz sind seine Werke allerdings seltener zu sehen, dafür aber an markanten Orten wie zum Beispiel in Zürich und in Zug jeweils an bester Lage am See – und jetzt in einer neuen grossen Ausstellung im Berner Zentrum Paul Klee. Das Haus zeigt 28 Skulpturen und 42 Papierarbeiten aus den Sammlungen der Tate Gallery und des British Council. «Wir möchten dem Publikum den ganzen Moore zeigen, figurative wie abstrakte Werke aller Schaffensphasen», sagt Kuratorin Fabienne Eggelhöfer. Dokumentarisches Material illustriert zudem das lange Leben des Künstlers, dessen Biografie sich wie eine Episode der Zeitgeschichte liest.
Henry Moore war der Sohn eines Kohlenminenarbeiters in Nordengland. Diese Herkunft prägte sein Denken, er war Zeit seines Lebens ein engagierter Sozialist, auch wenn er seine Kunst nicht in den Dienst der Weltanschauung stellte. Den Ersten Weltkrieg erlebte der junge Soldat Moore an der Front in Frankreich und wurde Opfer eines Giftgasangriffs. Die lebensgefährliche Verletzung war ein Glück für ihn, denn er war künftig vom Waffendienst dispensiert – und er klagte über keine Kriegstraumata. Die Berner Ausstellung erinnert an diese Episode mit der Skulptur eines verwundeten Soldaten. Ins gleiche Kapitel gehört ein viel späteres Arbeitsmodell für eine Skulptur, die vor der nuklearen Aufrüstung warnt. Das sind jedoch Ausnahmen: Wirklich typisch für Moore sind seine Mutter-und-Kind-Darstellungen, Werke die von einer mitfühlenden Humanität zeugen und von einer tiefen Wärme – trotz der kalten Materialien wie Stein oder Stahl.
Von Afrika inspiriert
Nach dem Ersten Weltkrieg konnte Moore sich an so renommierten Schulen wie dem Royal College of Art in London zum Bildhauer ausbilden. Jene Zeit war prägend für ihn, denn er lernte im British Museum und im Victoria & Albert-Museum die afrikanische Kunst kennen. Diese war in seiner Arbeit stets präsent, ohne dass der Künstler selbst den Kontinent je intensiv bereist hätte. Und er fand Inspiration im Pariser Kreis von Pablo Picasso, Georges Braques und Hans Arp. Moores Arbeit wurde damals in der Öffentlichkeit noch nicht verstanden. Eine seiner frühen «Frau und Kind»-Skulpturen in seinem häuslichen Londoner Garten fand in der kleinbürgerlichen Nachbarschaft keinen Anklang und führte in den späten 30er-Jahren zu monatelangen Reklamationen.
War Artist
Im Zweiten Weltkrieg war Moore schon so berühmt, dass ihn die Behörden als einen der War Artists rekrutierten. Er musste den Kriegsalltag an der englischen Heimfront dokumentieren, etwa die Übernachtungen der Londoner in den U-Bahn-Schächten in den ersten Kriegsjahren. Nach dem Krieg etablierte sich Henry Moore als einer der führenden Künstler des Königsreichs mit internationaler Reputation. Er arbeitete wie ein Besessener, erhielt Auftrag um Auftrag. In den 70ern soll er mehr als eine Million Pfund jährlich verdient haben. Auch wenn es nicht jedes Jahr ganz so viel war, drückte ihn der Fiskus in jenen Vor-Thatcherjahren erbarmungslos, sodass er sein Unternehmen in eine Stiftung überführte, die seine Tochter noch heute verwaltet.
Stellt sich die Frage, was verbindet Henry Moore mit Paul Klee? Kuratorin Eggelhöfer sagt dazu: «Auch wenn ihr Werk sehr unterschiedlich ist, verbindet beide Künstler die Offenheit, gleichzeitig abstrakt und figurativ zu arbeiten.» Beide hätten sich den Veränderungsprozessen in der Natur angenommen, «um lebendige Werke zu schaffen». Klee und Moore kannten sich nicht persönlich, hatten aber einen gemeinsamen Freund, den renommierten Kunstkritiker Herbert Read, ein Surrealismus-Experte. Er war eine der führenden Persönlichkeiten des englischen Kulturestablishments jener Zeit. Herbert Read stammte wie Moore aus bescheidenen Verhältnissen in Nordengland. Und er machte Paul Klee in England bekannt, so, wie das Zentrum jetzt mit dieser Ausstellung Moore in der Schweiz neu präsentiert.
Henry Moore
Fr, 30.1.–Mo, 25.5. Zentrum Paul Klee Bern