«In einer Herbstnacht vor fast einem Jahr brannte mein Haus nieder.» Mit diesem flammenden Paukenschlag beginnt der letzte Roman von Henning Mankell. Dem Ich-Erzähler Fredrik bleiben von seinen Habseligkeiten nur zwei linke Gummistiefel, die er in der Eile auf der Flucht angezogen hatte.
Fortan lebt der eigenbrötlerische 70-Jährige auf seiner einsamen schwedischen Schäreninsel in einem Wohnwagen, hadert mit seinem Schicksal: «Und ich begann zu ahnen, dass mit meinem Haus auch etwas in mir selbst abgestorben war. Auch Menschen haben Tragbalken, die zerbrechen.» Später wird er der Brandstiftung und des Versicherungsbetrugs bezichtigt, das nagt ebenso schwer an ihm.
Einst war Fredrik in das von seinen Grosseltern geerbte Haus in die Einsamkeit geflüchtet – nachdem seine Arztlaufbahn wegen eines schwerwiegenden Operationsfehlers abrupt zu Ende ging (siehe unten). Nun muss er mit einem weiteren Verlust umgehen.
Der pensionierte Postbote Jansson hilft ihm vorerst mit dem Nötigsten aus. Die Journalistin Lisa Modin, die über den Brand schreibt, wird zu einer Vertrauten. Der alte Mann erhofft sich von der 30 Jahre jüngeren Frau allerdings mehr – Liebe und Zuneigung, die ihm auf seiner Insel fehlen. «Mein eitler Traum, Lisa Modin könnte meine Begleiterin werden, war natürlich nichts anderes als eine Flucht vor der Wirklichkeit», stellt er zwar selbstkritisch fest und gibt die Hoffnung doch nicht auf.
Fremde unter Verdacht
Seine dritte Bezugsperson wird seine Tochter Louise, von deren Existenz er bis zu ihrem 30. Lebensjahr nichts gewusst hatte. Die inzwischen 40-Jährige reist auf die Insel, als sie vom Brand erfährt. Anfangs ist die Vater-Tochter-Beziehung von Distanz, manchmal gar Misstrauen geprägt. Die Welt seiner unkonventionellen, wilden Tochter bleibt Fredrik lange fremd. Einig sind sie sich hingegen, dass das niedergebrannte Haus wieder aufgebaut werden soll. Kurz nachdem Louise mit einer überraschenden Nachricht aufwartet, verschwindet sie jedoch wieder aus seinem Leben – bis er einen Hilferuf aus Paris erhält. Louise wurde verhaftet. Der alte Fredrik reist nach Paris, um seiner Tochter beizustehen. Erst jetzt gewährt Louise ihm einen Zugang zu ihrer Welt: Es findet eine Annäherung statt, die in Fredrik eine innere Veränderung auslöst. Derweil brennt auf den Schäreninseln das nächste Haus. Die Angst vor einem Pyromanen geht um. Verdächtigt werden Fremde – dass ein Einheimischer für das Leid verantwortlich sein soll, können sich die Bewohner nicht vorstellen.
Das Unvermutete im Menschen
Henning Mankell, der mit seinen Krimis rund um Kommissar Wallander und seinen kritischen Afrika-Romanen berühmt wurde, hält die Spannung bis zum Schluss aufrecht. Nebst der Frage, wer für die Brände verantwortlich ist, verhandelt der schwedische Schriftsteller in seinem zutiefst menschlichen Roman die grossen Lebensthemen: Der Umgang mit dem Alter, mit zunehmender Schwäche oder Einsamkeit, die Angst vor Tod und Verlust, prägende Erinnerungen. «Der Tod ist ein unheilbarer Anarchist», lässt er seinen Ich-Erzähler sagen.
Mit psychologischem Feingefühl durchleuchtet der Autor die zwischenmenschlichen Beziehungen seiner Figuren. Über allem schwebt die Frage, wie gut man die anderen, selbst die nahestehenden, Menschen kennen kann. Sind sie diejenigen, für die man sie hält? «Es gibt immer etwas Unerwartetes bei den Menschen, denen man begegnet und von denen man glaubt, sie zu kennen», stellt Fredrik fest. Diese unvermuteten, manchmal dunklen Seiten entdeckt er an seinen Mitmenschen genauso wie an sich selbst. «Weiss eigentlich überhaupt jemand von uns, wer wir sind?», fragt er sich am Ende.
Philosophisch und packend
Eingebettet ist die in einem ruhigen Fluss erzählte Geschichte in die unberührte Landschaft der Schäreninseln, wo Launen der Natur die Menschen prägen, wo Sturm und Eiseskälte sich abwechseln mit sommerlichen Düften – im Kontrast dazu steht der dritte Teil in der Pariser Betriebsamkeit.
Nicht nur landschaftlich erinnert Mankells Werk an den Roman «Pferde stehlen» des norwegischen Autors Per Petterson. In beiden Büchern herrscht in Eintracht mit der skandinavischen Natur eine Langsamkeit, die der Spannung keinen Abbruch tut. Im Mittelpunkt stehen knorrige Einzelgänger, mit sich selbst und ihren Erinnerungen beschäftigt und dennoch angewiesen auf Nähe und Trost anderer Menschen.
Henning Mankell, der mit 67 Jahren an seinem Krebsleiden gestorben ist, hat in seinem letzten Roman nochmals all seine literarischen Kräfte versammelt und einen berührenden Roman geschaffen – philosophisch, gesellschaftskritisch und packend erzählt.
Symbolträchtige Schuhe
Henning Mankells Roman «Die schwedischen Gummistiefel» ist eine Fortsetzung des 2006 erschienenen Bestsellers «Die italienischen Schuhe». Der Arzt Fredrik hat sich nach einer missglückten Operation in sein Sommerhaus auf einer unbewohnten Schäreninsel zurückgezogen. Hier erhält er Besuch von seiner ehemaligen Geliebten Harriet, die er in Studentenzeiten ohne Erklärung verlassen hatte. Harriet eröffnet ihm, dass sie todkrank ist. Als letzten Wunsch will sie mit ihm in den Norden reisen, wo er unerwartet mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. In einem Wohnwagen lernt er die junge, politisch engagierte Louise kennen – Harriets und Fredriks gemeinsame Tochter, die sie ihm verschwiegen hatte.
«Die schwedischen Gummistiefel» spielt acht Jahre später und spinnt die Geschichte um den Einzelgänger Fredrik und seine Tochter Louise weiter. Er nimmt gewisse Motive wie die titelgebenden italienischen Schuhe auf, von denen nach dem Brand nur noch ein verkohlter Spanner übrig ist. Der neue Roman lässt sich ohne Vorkenntnisse des ersten lesen.
Henning Mankell
«Die italienischen Schuhe»
Übersetzt aus dem Schwedischen
von Verena Reichel
368 Seiten
Dt. Erstausgabe: Zsolnay 2007.
Henning Mankell
«Die schwedischen Gummistiefel»
Übersetzt aus dem Schwedischen von Verena Reichel
480 Seiten
(Zsolnay 2016).