Warum soll das Publikum in diesen unsicheren Zeiten ins Theater gehen? Das hat sich die norddeutsche Regisseurin Heike M. Goetze, die mit ihrer Familie in Zürich lebt, während der Pandemie oft gefragt. Theater sei durchaus nicht immer systemrelevant, zeigt sie sich im Gespräch kritisch. «Aber im besten Fall kann es Ängste abbauen, ungemütliche Fragen stellen, aber auch ein Ort sein, an dem wir uns amüsieren und Emotionen zeigen dürfen.»
Ihre eigenen Inszenierungen, die sie auf grossen deutschen und Schweizer Bühnen zeigt, will sie einem möglichst breiten Publikum zugänglich machen. Theater schauen soll bei ihr immer auch eine sinnliche Erfahrung sein, wie sie sagt. Für diese Sinnlichkeit sorgt sie nicht nur als Regisseurin, die ihre körperbetonten Arbeiten immer zwischen Schauspiel und Tanz ansiedelt, sondern auch als Bühnen- und Kostümbildnerin. Für «King Lear» hat sie ein assoziatives Bühnenbild gewählt, das von einer einzigen Farbe dominiert wird: «Die Zuschauer sollen in eine einheitliche Farbe und in unterschiedliche Materialwelten eintauchen.»
Die 43-Jährige steckt gerade mitten im Probenprozess, arbeitet gemeinsam mit dem neunköpfigen Schauspiel-Ensemble auf den Kern des Klassikers hin. Vor dem «Theaterkoloss» hat sie keine Angst. Wichtig ist ihr auch hier, dass die jahrhundertealte Tragödie rund um einen abtretenden König und seine drei Töchter das heutige Publikum anspricht. «Wir haben uns für eine Übersetzung entschieden, die einen sehr direkten Ton hat», sagt sie. «Extrem modern» erscheint ihr die Tragödie auch durch die Themen: «Es geht um den Mikrokosmos Familie, um politisch handelnde Menschen, Macht und Ohnmacht, die Suche nach Identität und Autonomie.» Und: «Der Text ist viel alters- und geschlechtsloser, als man anfangs denkt. Es geht nicht nur um einen alten Patriarchen, der seine Macht abgibt. Da steckt deutlich mehr drin.»
Komisches Potenzial in Tragödien ausschöpfen
Dennoch sagt Goetze auch, dass sie vor einigen Jahren kaum zugesagt hätte für eine Lear-Inszenierung. «Aber nun passt das Stück in diese Zeit, in der wir leben», meint die Regisseurin. Ein besonderes Faible hat sie für Aussenseiter, die auf der Suche sind nach Identitäten: Etwa Ibsens «Nora» oder Schillers «Maria Stuart», die Goetze in Zürich beziehungsweise Bochum inszeniert hat. Mit «King Lear» kann sie nun auch ihr Flair für die Komik ausleben, das sie erst in ihrer Rolle als Mutter und mit dem Älterwerden entdeckt hat, wie sie schmunzelnd sagt. Denn in der Tragödie steckt durchaus komisches Potenzial: «Zuweilen liest es sich wie ein absurdes Puppenspiel. Und es gibt darin Szenen, die sich eins zu eins mit Trumps Amtszeit decken. Wahnsinnig tragisch, aber auch wahnsinnig komisch.»
King Lear
Bis Fr, 7.1. Luzerner Theater
Heike M. Goetzes Kulturtipps
Buch
Pernilla Stalfelt: Und was kommt dann? (Moritz Verlag 2003)
«Die Autorin beschäftigt sich auf wundersame und einnehmende Weise mit dem Tod. Dieses Buch eröffnet Kindern wie auch Erwachsenen einen sinnlichen Zugang zum Thema.»
Film
Roy Andersson: You The Living
«Anderssons Filme entführen in poetisch düstere und gleichermassen humorvolle Welten. Seine Protagonisten sind tragische Antihelden.»
Theater/Tanz
Kabinet K
«Generationenübergreifend setzt sich diese Künstlergruppe mit Themen auseinander, die uns angehen. Ihre Erzählweisen berühren und klingen lange nach.» www.kabinetk.be