Dieser Roman hat die Kritiker weltweit polarisiert: «Kitsch!», «masslose Übertreibung!», rufen die einen. «Meisterwerk», «verschlingende Emotionalität», «eindringliche Erzählstruktur», schwärmen die anderen. Spurlos geht dieses fast 1000-seitige Werk jedenfalls an niemandem vorbei, der sich mit Haut und Haar auf Yanagiharas Geschichte einlässt.
Die Leser begleiten über drei Jahrzehnte lang vier Freunde in New York, die sich aus Collegezeiten kennen: Der attraktive, herzensgute Willem, der eine beeindruckende Schauspielerkarriere hinlegt. JB, Kind haitianischer Einwanderer, leicht verzogen und selbstsüchtig, im Grunde genommen aber ein guter Kerl, der sich von den Drogen befreit und als Künstler zu Ruhm gelangt. Malcolm aus reichem Hause, der lange unter der Knute seines erfolgreichen, afroamerikanischen Vaters steht, es aber zum gefeierten Architekten schafft.
Freundschaft als treibende Kraft
Und der geheimnisvollste unter ihnen: Jude. Hinter ihm liegt eine schmerzhafte Vergangenheit, die ihn sein Leben lang verfolgen wird – körperlich und psychisch. Auch wenn er es zum Staranwalt bringt und von Menschen umgeben ist, die ihn lieben, kann er die Hyänen der Vergangenheit nie abschütteln.
Der Roman beginnt gemächlich: Die jungen Männer sind am Anfang ihrer Karrieren, müssen unten durch, ihr Viererpakt gibt ihnen Kraft und Antrieb. Hanya Yanagihara zeigt, wie Freundschaft die Familie ersetzen kann, und stellt in wechselnder Perspektive die Träume und Verletzlichkeiten der vier dar. Für Humor sorgt etwa JB, der seine Freunde nötigt, Haarbüschel für seine Kunstinstallationen zu sammeln.
Schmerzattacken und Selbstverletzungen
In kurzen Einsprengseln scheint immer wieder Judes rätselhafte Vergangenheit auf, die er seinen Liebsten verschweigt. «Er hat nie ein Date, wir kennen seinen ethnischen Hintergrund nicht, wir wissen eigentlich gar nichts über ihn», hält JB einmal fest. Jude verwendet all seine Energie vergeblich darauf, so zu sein wie die anderen. Immer wieder wird er von heftigen Schmerzattacken geplagt. Radikale Selbstverletzungen dienen ihm als Ventil für den inneren Druck.
Im Verlauf des Romans zielt der Fokus weg von den vier Männern allein auf Jude. Seine Vergangenheit bricht zusehends hervor, und den Lesern wird lange vor den Protagonisten klar, warum Jude diesen Selbsthass und diese tiefe Scham empfindet. Als Baby in einer Mülltonne ausgesetzt, hat er bis zu seinem 16. Lebensjahr massive sexuelle und psychische Gewalt erfahren – im Kloster, im Heim, auch von Personen, die ihm vordergründig wohlgesinnt waren. Das Vertrauen in die Menschheit und in sich selbst wurde so stark erschüttert, dass es irreparabel bleibt – selbst wenn ihm seine Freunde, sein aufopfernder Arzt Andy oder seine liebenden Adoptiveltern das Gegenteil zu beweisen versuchen. Nicht einmal der selbstlose Willem, der vom engen Freund zum Geliebten wird, vermag Jude von der Überzeugung zu befreien, dass er es nicht wert ist, geliebt zu werden.
Die US-Autorin mit hawaiianischen Wurzeln mutet ihren Lesern einiges zu. Sie nimmt sie mit an verstörende Orte, an die Grenzen des Erträglichen: Die Lektüre von Yanagiharas Roman kann einen gar schlaflos zurücklassen, wenn man wie Judes Freunde vergeblich um seine Erlösung bangt.
Die Übertreibung ist Konzept
In eindringlichen Bildern schildert sie Judes Seelennöte, leuchtet schonungslos seine innersten Winkel und die menschliche Bandbreite zwischen Güte und Grausamkeit aus. Das ist tatsächlich zuweilen dick aufgetragen: So viel Leid kann einem einzigen Menschen unmöglich zustossen. Yanagihara sieht ihr Buch indes nicht als Abbild der Realität, sondern als Versuchsanordnung: «Ich wollte, dass alles übertrieben ist, die Liebe, die Empathie, das Mitleid, der Horror. Alles sollte ein bisschen zu laut aufgedreht wirken …», sagte sie dem «Guardian». Ihr Buch wurzle im Märchen, fügt sie an. Genauso radikal und mit einem klaren Gut-Böse-Schema ausgestattet ist ihr ausufernder, tief menschlicher Roman. Doch dem Sog der 1000 Seiten können sich weder ihre Bewunderer noch ihre Kritiker entziehen.
Buch
Hanya Yanagihara
«Ein wenig Leben»
960 Seiten
(Hanser 2017).