Robert Rotifer kommt aus Wien, lebt in Canterbury und ist redend und schreibend für allerhand Medien in Österreich und Deutschland tätig. Vor allem auch leidet er seit Kindesbeinen an einem schweren Fall von Anglophilie. Dermassen tief sitzt der freundliche Wurm in seiner Psyche, dass er noch heute mit dem Haarschnitt der englischen Rockband Small Faces durchs Land pilgert und von Kopf bis Fuss dieser Bekleidungsphilosophie verschrieben bleibt. Robert macht auch Musik. In seinen 20 Jahren in England hat er acht Alben veröffentlicht. Allesamt sind sie hörenswert – fein gestrickte, munter dahinrockende Lieder mit Texten, die im Stil der Kinks den Alltag seiner Wahlheimat unter die Lupe nehmen. Dies natürlich auf Englisch. Soeben hat er ein neues Album veröffentlicht. Es heisst «Über uns», und zum ersten Mal singt er seine Lieder auf Deutsch. Angesichts der neuen Stimmung im Post-Brexit-Abstimmungsbritannien habe es ihm den Appetit verschlagen, sich auf Englisch auszudrücken, sagt er. Das ist ein heftiges Statement von einem Mann wie ihm. Oder Philippe Auclair. Er ist unter dem Namen Louis Philippe auch als Musiker bekannt, hat die definitive Biografie von Eric Cantona geschrieben und philosophiert international über den englischen Fussball. Was ihn jeden Tag von Neuem irritiere, sagt er, seien nicht die glockenklaren xenophobischen Statements, die man zu hören bekomme auf der Strasse und in den Medien, sondern die verkappten bösen Blicke, die einen zu erdolchen drohten, wenn man im Corner Shop seinen leisen französichen Akzent vernehme. In der Tat können mehrere Millionen EU-Bürger in England noch immer nicht sicher sein, wo sie in der näheren Zukunft leben werden. Nun – mich selber hat bis anhin weder die rotifersche Sprachallergie befallen noch bin ich im Besitz der hypersensiblen Good-Vibe-/Bad-Vibe-Antenne von Philippe. In der Tat hat mich dieser Brexit bis anhin kaum bis gar nicht auf konkrete Weise berührt. Als neutraler Schweizer sitze ich ja traditionellerweise «on the fence». Im Pub zum Beispiel spricht kein Mensch mehr davon. Das war vor der Abstimmung leicht anders: Da hauten ein paar Männer und Frauen ganz heftig auf die Pauke von wegen «die Zügel endlich wieder selber in die Hand nehmen, verdammt nochmal». Spätestens dann, als bekannt wurde, dass der traumhafte Finanzbetrag, der nach dem Austritt aus der EU dem Gesundheitswesen zufliessen würde, pure Fiktion, ja eine glatte Lüge gewesen war, wurden auch sie still.
In meinem Umfeld gibt es nicht eine einzige Person, die öffentlich für den Brexit eintritt. Dass es anderswo im Land nicht so ist, entnimmt man den Medien. So durfte ein Kolumnist in «The Sun» die Spanier als «donkey shaggers» (Eselsficker) bezeichnen, ohne dass dies einen Skandal ausgelöst hätte (der Kolumnist verlor seinen Job kurze Zeit später, weil er einen gemischtrassigen englischen Fussballer mit einem Gorilla verglich und sich nebenbei noch über Liverpool lustig machte). Dass es nun wieder allgemein akzeptabel geworden ist, wie zuletzt in den 80er-Jahren, Witze mit rassistischem Kolorit zu machen, ist bedrückend. Genauso bedrückend sind die Sprüche, welche die Premierministerin May und ihr Hühnerhaufen von windigen Brexit-Verhandlern täglich auf uns niederprasseln lassen. Gerade geht es darum, wie viel Zaster die Briten der EU für geleistete Dienste noch zu bezahlen hätten. So, wie es aus ihrer Rhetorik ertönt, tut die EU alles, die fairen Briten über den Tisch zu ziehen. Die EU wird als Feindbild in immer schrilleren Farben dargestellt. Diese «Wir-gegen-alle»-Parolen mögen Manchester United zu einigen Meistertiteln verholfen haben. Als Grundlage für diplomatische Gespräche wirken sie nicht viel respektabler als ein Trump-Tweet. Klar ist eigentlich nur, dass die Konsequenzen ihres Tuns selbst den Tätern noch völlig unklar sind. Dabei findet man inzwischen selbst in keineswegs als links-liberal bekannten Publikationen wie «Evening Standard» und «The Times» fast täglich wohlfundiert wirkende Berichte, die das immer schwächere Pfund als Ausgangspunkt für düstere Zukunftsvisionen verwenden, für den Fall, dass es May und Co. nicht gelinge, die EU freundlich zu stimmen. So legte der Wirtschaftsredaktor der «Times» kürzlich dar, dass es dem United Kingdom in jeder Beziehung nur nützen könne, ohne grosses Federlesen die derzeit zur Diskussion stehenden 55 Milliarden Pfund nach Brüssel zu schicken. Daraus würde sich allerdings ein neues, innenpolitisches Problem ergeben: Es wäre dann schwierig, den Leuten zu erklären, warum man nicht genauso leicht 55 Milliarden Pfund für die Sozialdienste, Schulen, Gesundheits- und Transportwesen im eigenen Land ausgeben könne.
Die tägliche Rhetorik der einen Seite, vermischt mit furchterregenden Zukunftsvisionen der anderen, ergibt beim Zeitungslesen zum Frühstück ein einziges Flimmern. Es weiss niemand nichts. Ich habe ein Bild vor mir von Astronauten, die weit weg von ihren Apollos staunend durchs All driften. Was bedeutet es zum Beispiel für die Künste, sprich: «The creative Industries»? Klar ist, dass das derzeitige Regime sich noch nie gross um diesen einen der wenigen wachsenden Wirtschaftszweige des Landes gekümmert hat – vielleicht auch darum nicht, weil es sich aus diesen Kreisen kaum je politische Unterstützung erhoffen kann. Mit dem Vinyl-Boom werde es sogleich vorbei sein, heisst es: Die Platten werden vorab in Tschechien gepresst, neue Importtaxen würden sie in England unerschwinglich machen. Ein verschwindend winziges Randphänomen, bestimmt. Aber jede Industrie ist mit zahllosen solchen Randphänomenen gespickt, für die der internationale Austausch nicht nur finanziell, sondern auch punkto Inspiration lebenswichtig ist. Aber vielleicht ist das ja das Ziel: Im Flimmern sehe ich Donald Trump, wie er unter einem Konfettiregen aus seinem Flieger steigt, um den Engländern zu helfen, eine Mauer rund um die Insel zu bauen und den verdammten Ärmelkanal-Tunnel endlich wieder zuzuschütten.
Hanspeter Künzler:
Der Journalist lebt mit seiner Familie in London und ist Korrespondent verschiedener Publikationen.
Unter anderem schreibt er in der «NZZ am Sonntag» regelmässig über Popmusik und in der NZZ über Fussball.