Roberta Kienesberger stand am Fenster des Bibliothekraums und sah in den Garten hinaus. Die Wolkenbank, die sich schnell über den Himmel schob, war schieferfarben, das Sonnenlicht, gefiltert durch die Zweige der Bäume, sprenkelte die Fassade mit Flecken, die tanzten, wenn der Wind auffrischte. Anfangs hatte sie den Bücherdienst so oft wie möglich übernommen, aber seit sie nicht mehr stillsitzen konnte, hielt sie es kaum aus in der Bibliothek, in der es nach Essen roch, da sie an die Küche grenzte.
Humbel, ihr Zimmernachbar, sass auf der Parkbank und redete mit sich selbst, wie oft, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Sie wusste, wovon Humbel redete, schliesslich kannte er nur ein Thema: Die Fortpflanzung von Tieren. Die Kieswege leuchteten in der fahlen Abendsonne, der Himmel war jetzt leer und weit, und sie trat auf den Gang hinaus und holte den Wagen herein, auf dem sich die zurückgebrachten Romane und Bildbände stapelten. Sie war nie eine Leserin gewesen und hatte sich nur dafür gemeldet, die Bücher alphabetisch in die Regale einzuordnen, weil es eines der Ämtchen war, bei denen man alleine war und seine Ruhe hatte. Sie interessierte sich noch immer nicht für Literatur, aber seit sie vor vier Wochen in «Hiob» von Joseph Roth ein gefaltetes Blatt Papier gefunden hatte, auf dem in sorgfältiger Handschrift mit Bleistift Wörter aufgelistet waren, schlug sie jedes Buch auf, bevor sie es zurückstellte. Sie hatte damals einen ganzen Nachmittag gebraucht, um die einundzwanzig Wörter der Liste in Joseph Roths Roman zu finden: Jedes einzelne war, verteilt über die 297 Druckseiten, mit Bleistift unterstrichen gewesen. Sie sammelte die Listen, mittlerweile waren es acht, in einem Umschlag, hatte aber nie ernsthaft versucht herauszufinden, wer sie schrieb. Die Handschrift gefiel ihr, sie war klein und doch grosszügig, energisch und doch elegant. Es war die Schrift eines Mannes, stellte sie sich vor, eines gebildeten Mannes, der sich gewöhnt war, Anweisungen zu erteilen, der seine Bleistifte messerscharf spitzte.
Heute lag die Liste im untersten Buch des Stapels, «Die Nacht von Lissabon» von Erich Maria Remarque. Remarques «Im Westen nichts Neues» hatte sie in der Schule gelesen, viele Jahre war es her, gefallen hatte es ihr nicht. Sie nahm die Liste aus dem Buch, entfaltete sie aber erst, als sie wieder am Schreibtisch sass:
- Passagierdampfer
- Glaskabine
- Indonesien
- Obersturmbannführer
- Girlanden
- Lump
- Bienengesumm
- Monteuranzug
- Ausreisevisum
- Kostbarkeiten
- Kanarienvogel
- Mücke
Roberta Kienesberger machte sich nicht mehr die Mühe nachzuprüfen, ob die Wörter wirklich aus dem Buch stammten, in dem die Liste lag. Die ersten drei Listen hatte sie überprüft, aber da sie auf kein einziges Wort gestossen war, das sich nicht auf irgendeiner Buchseite fand, verzichtete sie mittlerweile auf die Kontrolle. Die neue Liste beschränkte sich auf Hauptwörter. Manchmal waren es ausschliesslich Tätigkeitswörter, manchmal Adjektive oder Namen, manchmal nur Fremdwörter. Anfangs hatte sie sich vorgestellt, die Wörter seien eine Botschaft, eine verschlüsselte Nachricht an sie, da man im Haus ja durchaus wusste, dass sie die ausgeliehenen Bücher einreihte. Doch die Idee war ihr bald als eitel erschienen, und sie hatte aufgehört, die einzelnen Wörter in einen Zusammenhang bringen zu wollen. Es waren Wörter, mehr nicht, eins unter dem andern, abgeschrieben aus Büchern, die sie nie lesen würde.
Als sie aus dem Fenster sah, war Humbel verschwunden, der Garten leer. Es ist doch bald vorbei, dachte sie, und ich vertue die Zeit, die mir bleibt, an einem Ort, an dem ich nicht freiwillig bin. Ein Kirschbaum bin ich, krumm und verwachsen, der immer noch Früchte trägt. Früher hatte sie nie solche Gedanken gehabt. Sie machten ihr keine Angst, sie verwirrten sie. Sie blieb sitzen, bis es so dunkel war, dass sie eigentlich das Licht hätte anmachen müssen. Sie hörte Stimmen auf dem Korridor, das Tappen von Stöcken, das Quietschen von Gummirädern. Aus ihrem Zimmer im lang gestreckten Westtrakt konnte sie zwar nicht auf den Hallwilersee hinuntersehen, dafür sah sie über eine Wiese hinweg den Wald, fünfzig, sechzig Meter entfernt, Bäume, die beim kleinsten Wind rauschten, sich wiegten und nach vorne neigten, als wollten sie aus der Reihe der Stämme hinaustreten, um sich davonzumachen.
Manchmal sah sie Rehe am Saum des Waldes, das versöhnte sie jeweils für kurze Zeit mit der Situation, mit der sie sich nicht abfinden wollte. Die Rehe standen mit erhobenen Köpfen im Dämmerlicht und sahen minutenlang reglos zu den verschiedenen Gebäuden des Altersheimes hinüber, als wollten sie herausfinden, was die Menschen sich von ihrem Leben erhofften und was sie von ihnen unterschied. Die Flecken unter den Sterzen leuchteten, manchmal sah sie die Atemfahnen der Tiere vor der finsteren Wand aus Bäumen.
Sie spürte ihr Herz, es schlug beharrlich und irgendwie streng, als wolle es sie belehren. Sie hatte lange nicht mehr an früher gedacht, aber seit einiger Zeit tat sie es. Es waren keine Szenen, die sie vor sich sah, es waren Bilder, sie erinnerte sich an das Licht über der Wiese hinter ihrem Elternhaus, wenn sie morgens im Nachthemd aus dem Fenster des Kleinhäuslerhofes geblickt hatte, erinnerte sich an ihre vier Kühe am Trog, die gefleckten Schädel nach ihr umgewandt. Sie sah den Krähenschwarm in den Bäumen hinter dem Schuppen hocken, sah die neue Brücke über die Traun, drüben, im Städtchen, roch das flaschen-grüne Wasser, das unter ihr vorbeizog, und den Malzkaffee, den ihr Stiefvater trank, bevor er mit dem Rad in die Saline fuhr, wo er Schicht arbeitete, hörte das Summen der elektrischen Schreibmaschinen im Schulungszimmer über der Papeterie in Bad Ischl, wo sie einen Kurs belegte. Augen nach rechts, nicht auf die Tastatur, nach rechts – und los, Maschinen einschalten! Warum, fragte sie sich, kann ich mich nicht an den Tag erinnern, an dem ich beschlossen habe, von zu Hause wegzugehen und in der Schweiz Arbeit als Sekretärin zu finden? Gibt es ihn vielleicht gar nicht, den ganz bestimmten Moment, in dem ich den Entschluss fasste? Ist es etwa einfach geschehen, so, wie es sich einfach ergibt, dass man eines Tages Mann und Sohn verlässt, ohne sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen? Sie sah den meterhohen Schnee ihrer Kindheit vor sich, der in der Dämmerung leuchtete, sah die Wege, die in Schlangenlinien durch ungemähte Wiesen führten, die Kellerstiege, auf der es nach Äpfeln roch und dem sauren Most, den ihr Stiefvater in grossen grünen Glasflaschen anmachte.
Sie stand auf, öffnete die Tür, trat vorsichtig auf den Korridor hinaus und ging dann schnell an den grossen Scheiben des Esssaales vorbei.
Hansjörg Schertenleib
Hansjörg Schertenleib wurde 1957 in Zürich geboren. Er machte eine Ausbildung zum Schriftsetzer und besuchte dann die gestalterische Berufsmittelschule an der Kunstgewerbeschule in Zürich. Längere Aufenthalte in Norwegen, Dänemark und Wien folgten. Seit 1981 ist er freier Autor. Schertenleib lebt im County Donegal in Irland.