Das Licht, das zwischen den erst vor wenigen Wochen fertiggestellten Wohnblöcken schwebt, als lasse es sich anfassen, hat einen Blaustich; es regnet, regnet dicht und regelmässig, und für einen Augenblick stellt Casper Arbenz sich vor, es schneie, schneie dicht und regelmässig, wie den ganzen Winter nicht. Als Kind hat er Schnee geliebt. Wo ist der Holzschlitten abgeblieben, den sein Vater ihm zum zehnten Geburtstag geschenkt hat? Casper zog den hölzernen Einsitzer mit den blitzenden Kufen nicht wie die anderen ihre Schlitten und Plastikbobs an Seilen den Hang hoch, er schlüpfte mit den Armen zwischen Kufenbogen und Sitzlatten und trug ihn wie einen Rucksack.
Ihr kleiner Garten ist rettungslos verwahrlost, Windstösse greifen in die Äste der drei Birken, in die er Futtersäckchen so gehängt hat, dass er sie durchs Fenster des Zimmers im Blick hat, das früher als ihr Gästezimmer diente und in dem er seit Bettinas Auszug vor einem halben Jahr nicht nur schläft, sondern stundenlang Musik hört oder liest.
Er schlüpft in den alten Militärmantel seines Grossvaters, knöpft ihn zu, tritt trotz des Regens in den Garten hinaus, um die kühle, klare Luft zu geniessen, und geht von Futtersäckchen zu Futtersäckchen, die Schösse des Mantels über das ungemähte Gras schleifend wie ein General, der das Feld nach geschlagener Schlacht inspiziert. Wie lächerlich Bettina den Militärmantel fand, hat sie ihm bei jeder Gelegenheit unter die Nase gerieben, vor allem in Gegenwart anderer. «Du siehst aus wie einer, der sich als Jazzmusiker verkleidet!» Und obwohl er Studenten, die originell gekleidet zum Unterricht an der Jazzschule erscheinen, für ebenso lächerlich hält wie Professorenkollegen, die niemals ohne ihr buntes Strickmützchen oder ihren zur hüftlangen Peitsche geflochtenen Zopf vor die Studenten treten, als mache dies sie zu guten Musikerlehrern, trägt er den Militärmantel selbst im Sommer, wenn er sich auf den Weg an die Jazzschule macht.
Seit er, zwei Jahre vor der Pensionierung, freigestellt ist, muss er seinen Tagen Struktur und Sinn geben, sonst verfällt er sinnlosen Grübeleien und Selbstmitleid. Er übt mehr denn je, macht lange Körper-, Atem- und Koordinationsübungen, gut strukturierte Warm-ups, verbringt viel Zeit in seinem schallisolierten Raum am Schlagzeug, überzeugt davon, die Wiederholung ist die Mutter aller Dinge für jeden Schlagzeuger.
Wie klagt man den an, der sich selber anklagt, wie verachtet man einen, der sich selbst verachtet? Mitleid darf er so wenig erwarten wie Gnade. Adriana Pirlo ist die Studentin, er, Casper Arbenz, der Professor. Der Fall ist klar, das Urteil gefällt. Er ist der Täter, sie das Opfer. Aber ist er nichts anderes als der Täter? Die Gemeinschaft der Wohlanständigen hat ihr Urteil gefällt, ihr Verdikt gesprochen: Casper Arbenz ist schuldig. Der Prozess findet nach der Verurteilung statt. Offene Vorwürfe macht man ihm nicht, das nicht, dazu fehlt den Leuten der Mut und natürlich der Beweis, dass Adriana tatsächlich die Wahrheit sagt. Mittlerweile hat er es aufgegeben, sich bei Freunden und Bekannten erklären zu wollen, er hat verstanden, dass sich seine Version wie eine Rechtfertigung und letztlich also wie ein Schuldeingeständnis anhört.
Er betrachtet die Wohnblöcke, die seinen Garten im Sommer bereits um 15 Uhr in Schatten tauchen und ihn nicht nur an nebligen Herbst- und Wintertagen an Felsmassive erinnern. Als die Bagger vorfuhren und das Areal der Gärtnerei Raeber dem Erdboden gleichmachten, fing Bettina nach über vier Jahren wieder an zu rauchen. Das Knirschen zersplitterter Treibhausscheiben unter den Baggerraupen ging ihr so nahe, dass sie ein Valium nahm und sich im Schlafzimmer verkroch. Obwohl sie die im Gemeindehaus ausgelegten Baupläne studiert hatten, trauten sie ihren Augen nicht, als die Wohnblocks ausgesteckt waren. Die Bauherrschaft, eine Versicherungsanstalt, die ihr Kapital in Immobilien anlegt, nutzte jeden Meter der Bauzone: Von nun an, das wurde ihnen gnadenlos vor Augen geführt, leben sie im Schatten und müssen neben dem Kreischen der Kinder auf dem Spielplatz, der ausgerechnet an ihren Garten grenzt, auch das Gemurmel, das Gelächter und die Musik der Paare aushalten, die auf ihren Balkonen grillieren und feiern, sooft es das Wetter erlaubt.
Casper geht ums Haus herum, um die Schäden an der Verkleidung aus Fichtenholz zu begutachten, die ihnen das Architektenduo Hausmann & Hug mit dem Versprechen ans Herz gelegt hat, Fichte halte «ein Leben lang». Soll er Bettina ein Handyfoto der angefaulten Bretter senden, weil sie seine Bedenken damals spiessig fand? Über Verkaufssprüche in der Art von «unser offenes, variables Raumkonzept ermöglicht vielfältige Raumbezüge» der Architekten, die mit ihren grauen Rollkragenpullis, Hornbrillen und kahlen Köpfen tatsächlich wie das Klischeebild von Architekten aussahen, hatten sie noch gemeinsam gelacht, auf Caspers wachsende Skepsis gegenüber ihren Vorschlägen hatte Bettina aber bald mit uneingeschränkter Begeisterung reagiert. Wie unpraktisch das Haus aus vorfabrizierten Holzelementen aufgrund seines offenen Konzeptes mit verschiebbaren Wänden aus Spanplatten für ein freischaffendes Paar ist, haben sie schmerzlich erfahren müssen. Es ist ringhörig, bietet kaum die Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Über das Haus wurde mehrmals in Architekturzeitschriften berichtet, aber es ist eine Fehlplanung, die Idee ambitionierter Architekten, die sich als Künstler verstehen, kein Haus, um darin zu leben und zu arbeiten. Die Vorstellung, es im Zuge ihrer Scheidung verkaufen zu müssen, um Bettina ihre Hälfte auszahlen zu können, bereitet Casper keine Mühe, sondern Freude. Das Haus mag zu ihr passen, zu ihm passt es nicht.
Während er auf der kleinen bekiesten Fläche steht, die er vor drei Jahren als Sitzplatz angelegt hat, die Hand auf dem nassen Blechtisch, begreift er, er hat seine Frau verloren, sein altes Leben liegt in Schutt und Asche. Die Einsicht trifft ihn wie eine mächtige Strömung, die ihn umzureissen und mit sich fortzuschwemmen droht. Die Seelenverwandtschaft, das Fundament ihrer Liebe, sie ist nicht mehr. Werden sie sich nach der Scheidung versöhnen? Will er überhaupt mit seiner geschiedenen Exfrau befreundet sein? Wird er sich für den Umgang mit ihr ein Fell zulegen, das dick genug für ihre spitzen Bemerkungen und Verletzungen ist? Seit Bettina ausgezogen ist, träumt er anders, träumt dunkel und rätselhaft, bewegt sich durch Welten, die ihm Angst einjagen und ihn schweissnass erwachen lassen. Weshalb setzte er sich beim Pinkeln erst hin, seit sie ausgezogen ist?
Hansjörg Schertenleib
1957 in Zürich geboren, hat Hansjörg Schertenleib Schriftsetzer und Typograf gelernt, bevor er die Kunstgewerbeschule besuchte. Seit 1981 ist er freier Schriftsteller. Seine Romane wie der Bestseller «Das Regenorchester» wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Schertenleib lebte 20 Jahre in Irland, vier Jahre in Maine und seit Sommer 2020 im Burgund. Zuletzt erschienen ist sein Buch «Palast der Stille» und der Maine-Krimi «Im Schatten der Flügel». Der vorliegende Text ist ein Auszug aus seinem neuen Roman, der im August im Kampa Verlag erscheint.