Es gab in der Schweiz einen schönen, bemerkenswerten Brauch: Jeden Abend vor den Achtuhrnachrichten durfte ein Kind auf dem Volkssender Radio SRF 1 einen «Wunsch in die Nacht» äussern. Die dreissig Sekunden bildeten den Abschluss der Kindersendung «Zambo». Meine Kinder mochten die Sendung. Als «No Billag» das Radio bedrohte, produzierten wir selber einen «Wunsch in die Nacht», den wir als Audio-File auf Social Media verbreiteten: «Mein Wunsch in die Nacht ist», sagte mein damals sechsjähriger Sohn zu sphärischer Musik, «dass No Billag abgelehnt wird, weil es sonst kein Zambo mehr gibt.»
Unser Wunsch wurde erhört, «No Billag» massiv versenkt – und «Zambo» keine zwei Jahre später abgeschafft. Schuld an der Abschaffung waren nun aber nicht die Feinde des Service public, sondern die SRF-Direktion. Die gleiche, welche den Abbau damit begründet, vermehrt ein Publikum «unter 45» ansprechen zu wollen. Wer dieses Publikum denn sein soll, bleibt offen. Sicher ist: Sechsjährige Radiohörerinnen und -hörer gehören nicht dazu. Sie scheinen den falschen «Distributionskanal» zu nutzen.
Ich hätte es ja ahnen können. Mit der «Konvergenz», der Fusion von Radio und Fernsehen und der Zusammenlegung von Redaktionen vor zehn Jahren wurde das Radio zum Plünderladen für Fernsehchefs. Die damalige Ständerätin Géraldine Savary sah das kommen und reichte eine Interpellation zur Rettung des Radios ein. Der Bundesrat im März 2010 beschwichtigte: «Der Verwaltungsrat der SRG hat in seinen Rahmenbedingungen zur Medienkonvergenz verlangt, dass die Gleichwertigkeit der Medien beibehalten bleibt.» Insbesondere seien die Stärken, die Unabhängigkeit und der Stellen-wert des Radios zu wahren. Das Radio dürfe nicht unter dem Vorwand der Konvergenzentwicklung reduziert werden.
Für «Zambo» jedoch hiess «Konvergenz» nichts anderes als Kahlschlag. Fernsehprofis sorgten dafür, dass keine Kinderhörspiele mehr produziert werden konnten. An deren Stelle realisierten sie eine Online-Kindersoap, die nach wenigen Folgen resonanzlos eingestellt wurde. Der Online-Flop wurde öffentlich nie diskutiert, doch «Zambo» war unwiderruflich beschädigt. Es durfte in abgespeckter Form weiter bestehen, bis zum Aus vor einem halben Jahr.
Als ich auf Twitter das Ende der täglichen Kindersendung beklagte, antwortete Tristan Brenn, Chefredaktor TV bei SRF: Das Kinderprogramm werde ja nicht einfach gestrichen, sondern es würden neue Angebote entwickelt. Er verlinkte den Youtube-Kanal «Kinder-News», den SRF seit Ende Mai betreibt. Die Erklärfilme für Kinder, auf die er mich hinwies, waren zu Anfang rund 2000 Mal angeklickt worden, Mitte Oktober waren es noch wenige 100 Mal. Als ich konterte, ein Youtube-Kanal habe mit Radio nichts zu tun, übernahm der offizielle Twitterdienst von SRF: «Auch beim Kinderprogramm passen wir das Angebot dem Nutzungsverhalten an … Auch Audioinhalte werden immer mehr zeitversetzt oder über andere Plattformen genutzt.» Offenbar kennen Herr Brenn und der SRF-Twitterdienst das Nutzungsverhalten von Radiohörerinnen und -hörern nicht – oder es passt ihnen nicht in die Strategie. Rund 80 Prozent der User von SRF nutzten das Angebot nach wie vor linear, liess SRF-Chefin Nathalie Wappler kürzlich verlauten. Mit seinen Radiosendern erreiche SRF täglich 2,5 Millionen Leute. Eine beachtliche Zahl. Man darf gespannt sein, wie lange es wohl dauert, bis Wappler/Brenn mit ihrer «digital first»-Strategie eine ähnlich breite Bevölkerung erreichen.
Die neusten Streichungen betreffen nun auch weitere Kulturangebote wie «52 beste Bücher» – eine Vertiefungssendung, klassischer Service public – sowie die tägliche Zwei-Minuten-Einlage «Morgengeschichte». Mit «52 beste Bücher» streicht SRF ausgerechnet jene Literatursendung, die unter Beteiligung von Autorinnen und Autoren entstand. Über Literatur reden, ja, aber nicht mit denen, die sie verfassen, scheint die Devise zu sein. Die Sendung werde «im nächsten Jahr abgelöst durch ein ganzheitlich neu aufgestelltes Literaturangebot», verkündete Nathalie Wappler im Zusammenhang mit der Streichung. Wir ahnen, was das heissen könnte: eine neue Spielwiese im Netz, mit der Reichweite von «Kinder-News»?
Bei der «Morgengeschichte» bin ich direkt betroffen. Ich konnte während 15 Jahren mehr als 400 Geschichten für dieses Format verfassen. Das ist viel und eine lange Zeit, insofern ist mein Abgang gerechtfertigt. Doch leid tut mir, dass mit der Streichung eines der letzten Gefässe – neben Hörspiel und Satire – verschwindet, für das originär literarische (Kurz-)Texte verfasst wurden. Das Radio trat hier seinem Auftrag gemäss auch als Kulturproduzentin, Kulturförderin auf.
Man kann der Meinung sein, Kinder bräuchten kein Radio und Radiohörer seien ein Publikum, um das man sich nicht speziell bemühen müsse, weil es früher oder später sowieso aussterbe. Dem stehen wie gesagt Nutzungszahlen entgegen, und dem widerspricht die Erfahrung. Als das Radio vor 30 Jahren totgesagt wurde, ahnte niemand den Boom, den es in jüngster Zeit erlebt, seine Auferstehung im Podcast. Es gibt grundsätzlich keinen Podcast, der nicht als Radioformat denkbar wäre. Doch die «Programmentwickler» von SRF foutieren sich ums Radio. Wann wurde zuletzt mit «freigespielten» Mitteln aus dem Fernsehbetrieb ein innovatives Radioformat entwickelt?
Radio ist kein «Distributionskanal», es ist ein Kulturgut, ein Medium wie Oper oder Theater. Ein Theaterdirektor, der Opernproduktionen streicht, um Instagram und Youtube-Kanäle zu bespielen, wäre die längste Zeit Theaterdirektor gewesen. Warum soll das bei SRF anders sein?
Mein Wunsch in die Nacht ist: Macht die «Konvergenz» rückgängig, stoppt die «Transformation», bewahrt die Stärken, die Unabhängigkeit und den Stellenwert des Radios, wie es der Bundesrat vor zehn Jahren versprochen hat.
Guy Krneta
Guy Krneta ist freier Autor in Basel. Er schrieb während 15 Jahren «Morgengeschichten» für Radio SRF 1. Er ist Mitbegründer des Spoken-Word-Ensembles «Bern ist überall» und initiierte unter anderem das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Soeben erschien sein neuer Roman «Die Perücke» im Verlag Der gesunde Menschenversand.