Groteske heile Welt
Eine Familientragödie der modernen Art. Die belgische Autorin Saskia De Coster entlarvt die Abgründe des Mittelstandes.
Inhalt
Kulturtipp 07/2016
Karin Unkrig
Die Familie Vandersanden wohnt in einer Villengegend im flämischen Belgien. Die hohen Hecken schützen sie weder vor sich selbst noch vor den Gespenstern der Vergangenheit. Jeder kultiviert seine Marotten: Mutter Mieke kämmt unentwegt Teppichfransen, Vater Stefaan ist ein Kontrollfreak, die Nachbarn pflegen Rosen und Neurosen. Einzig Tochter Sarah scheint normal zu sein. Das ist die Ausgangslage des Romans «Wir & Ich» der 40-jährigen belgischen Schrifts...
Die Familie Vandersanden wohnt in einer Villengegend im flämischen Belgien. Die hohen Hecken schützen sie weder vor sich selbst noch vor den Gespenstern der Vergangenheit. Jeder kultiviert seine Marotten: Mutter Mieke kämmt unentwegt Teppichfransen, Vater Stefaan ist ein Kontrollfreak, die Nachbarn pflegen Rosen und Neurosen. Einzig Tochter Sarah scheint normal zu sein. Das ist die Ausgangslage des Romans «Wir & Ich» der 40-jährigen belgischen Schriftstellerin Saskia De Coster, die in ihrem Land als eine literarische Leitfigur gilt.
Eine Zeitreise
Während die Erwachsenen ihre heile Welt zementieren, bricht Sarah gelegentlich aus, übertritt Gebote oder verweigert sinnlose Pflichtübungen. Bestärkt wird sie etwa durch den kleinkriminellen Onkel Jempy oder die eigensinnige Grossmutter Melanie: Störenfriede, deren sich das Ehepaar Vandersanden schämt, sich ihrer aber nicht entledigen kann. Sarah schafft den Ausbruch mit einer Musikband. Nach dem Selbstmord ihres Vaters zieht sie weg, profitiert vom Erfolg ihrer CD, findet eine Liebe sowie die Kraft, eigene Entscheidungen zu treffen.
Der Roman «Wir & Ich» liest sich flüssig, die wechselnden Erzählperspektiven der Personen erzeugen Spannung. Die Lektüre kommt einer Zeitreise in die 80er- und 90er-Jahre gleich. Der Kreis schliesst sich, wenn man die Dekadenz der damaligen Yuppies der Arroganz heutiger Bonus-Banker gegenüberstellt. Lediglich elementare Ereignisse vermögen die Abgehobenen zu erschüttern – Tod und Geburt etwa.
Einige Sätze von De Coster sind brillant, einige Situationen urkomisch. Etwa wenn Stefaan wegen eines verschwundenen Tortenhebers die Polizei alarmieren sollte oder als Mieke der meckernden Lehrerin das Tafelwisch-Wasser über den Kopf schüttet. Andernorts fehlt der sprachlichen Eloquenz das inhaltliche Gegenstück. Insbesondere bei den klinischen Krankheitsbildern mangelt es an Tiefgründigkeit: sei es die postnatale Depression der Mutter, die zeitweilige Magersucht der Tochter oder die Selbstaggression des Vaters.
Materieller Überfluss schützt nicht vor den Risiken des Lebens. Diese Einsicht ist nicht neu. Interessant wird es erst, wenn daraus das Vergnügen erwächst, der Ungewissheit ins Gesicht zu lachen. Dieses Amüsement überträgt sich hier auf den Leser – und mag zum Erfolg des Romans beigetragen haben.
Saskia De Coster
«Wir & Ich»
432 Seiten
(Klett-Cotta 2016).