Anisa Alrefaei Roomieh ist aus Syrien ins jurassische Delsberg geflohen, wo sie heute mit ihren Töchtern wohnt: «Sie kennen Syrien nur aus meinen Erzählungen. Ihnen ist nicht klar, dass sie Teil jenes Landes sind.» Für ihre damals noch ungeborene ältere Tochter schrieb Roomieh ein Gedicht, das nun in der Rahmenhandlung des Buchs in Wort und Bild vorgetragen wird. Das Gedicht steht auch am Anfang der Graphic Novel, sodass man es vor Beginn der Bildergeschichte schon gelesen hat. Es besingt Bürgerkrieg, Flucht und Ankunft im Jura. Worte, die unter die Haut gehen: «Komm nicht in diese Welt der Unterdrückung …», fleht die Mutter ihr Ungeborenes an. Und über ihre neue Heimat schreibt sie: «Ich bin so verliebt in ihre Bürgersteige, Strassen und die Steine ihrer Altbauten …»
Lebendige, betörende und einschüchternde Bilder
Zu Roomiehs Worten gestaltet Rubli betörende Bilder, die von verästelten, sich überlagernden Wasserfarben ebenso leben wie von breiten, fast wuchtigen Farbstrichen. Die Reduktion und die kleinen Details machen das Buch lebendig. Ein einziger Blutfleck auf zwei grau in grau gezeichneten Händen bringt den Tod und das Elend des syrischen Bürgerkriegs näher als jedes TV-Bild. Auf anderen Seiten schichten sich verwaschene Farben, man denkt an Batiken und an das Gewölk, das beim Massieren der geschlossenen Augen entsteht – bis sich am Ende eines mehrseitigen «Rorschachtests» Anisas zweite Tochter Marya aus den Farben herausschält. Ebenso betörend ist das Bild, in dem die Farbe Gelb die Erinnerung an Anisas tote Mutter symbolisiert. Einschüchternd hingegen ist der Schwarm pechschwarzer Bomber, die wie auf einer Kinderzeichnung über das Schlachtfeld fliegen und Tod und Verderben über die Menschen bringen.
Ein Buch zur Feier des Lebens
Die Fluchterfahrung von Roomieh ist ein roter Faden: «Deine Mutter ist ab jetzt bloss eine Nummer in einem Register … / Ohne Papiere … ohne Heimat … ohne Identität.» Solche Worte zeigen, was für eine existenzielle, alles zerreissende Erfahrung die Flucht aus dem eigenen Land ist. Bezeichnenderweise sind es gerade diese Bilder, bei denen man nicht ganz sicher ist, was sie genau abbilden. Aber wie sonst könnte man auch den Schmerz des erzwungenen Aufbruchs und Verlusts evozieren?
Doch es ist kein düsteres, sondern auch ein humorvolles Buch – eines, welches das Leben feiert. Etwa durch die vermeintlichen Luftballons und die Freude, die sie bei den Schulkindern auslösen. Oder durch die Zeile «Weisst du noch, wie du aus vollem Hals gesungen hast, um den Lärm des Krieges zu übertönen?». Wunderschön und zeitlos modern, wie hier alles blau in blau verschwimmt, verschwindet und neu entsteht. Man denkt angesichts der mit flüchtigen Strichen entstehenden Gestalten stellenweise an den Maler Marc Chagall.
Maeva Rubli & Anisa Alrefaei Roomieh
bei mir, bei dir
Aus dem Franz. von Christoph Schuler
(Edition Moderne ’21