Ist es ein phonetisches Missverständnis oder doch eine passende Analogie? In ihrer Graphic Novel «Seek You» beginnt Kristen Radtke mit einer Anekdote über ihren Vater, der als Amateurfunker nachts sogenannte «CQ-Rufe» in die Welt sandte. Piepende Kontaktversuche in einer damals noch analogen Welt. Wobei man CQ im Englischen irgendwann mit «seek you» («suche dich») gleichzusetzen begann.

Mit Unerschrockenheit am Werk
Es ist der treffende Einstieg in eine Welt der Einsamkeit, welche Radtke auf ungewöhnliche Art auffächert – nicht etwa als traditionelle Geschichte mit wiedererkennbaren Figuren, sondern als Mix aus persönlichem Essay und sozialgeschichtlichem Sachbuch. Dabei fällt auf, dass die US-Amerikanerin ihr Thema nicht nur inhaltlich, sondern auch zeichnerisch mit einer Unerschrockenheit angeht, die einen geradezu magisch in den Bann zieht.

Mal ist da dieser an Edward Hopper erinnernde melancholische Blick auf ein von verlorenen Individuen bevölkertes Wohnhaus. Dann gibt es Strichzeichnungen, Buchcovers, Schlagzeilen oder Logos in teilweise abenteuerlicher Anordnung. Oder man landet bei einem seitenübergreifenden Kraken, der die komplexe gengesteuerte Maschinerie des menschlichen Wesens symbolisiert. Das Erstaunliche dabei: In «Seek You» gleicht kaum eine Seite der anderen. Das passt insofern, als Radtke den erzählerischen Bogen weit spannt.

Mal geht es um die Erfindung von Lachkonserven in Sitcoms: «Sie funktionieren, weil sie der einsamen Zuschauerin vormachen, in Gesellschaft zu sein.» Dann beschäftigt sich die 36-Jährige mit dem Mythos des US-amerikanischen Cowboys.

Vor allem aber widmet sie sich den abscheulichen Tierversuchen von Harry Harlow (1905– 1981), der selbst gezüchtete Affen extremen Isolationsbedingungen aussetzte, nur um zu dokumentieren, wie jämmerlich sie dabei zugrunde gingen. Bezüglich Harlow, der selbst an Depressionen litt, kommt Kristen Radtke zum Schluss: «Einsamkeit ist ansteckend.»

Als würden wir uns selbst «CQ» zurufen
Dass man als Leser bei solcher Lektüre einiges aushalten muss, versteht sich. Das hat auch sein Gutes: Indem es sich die Autorin alles andere als leicht macht mit dieser vielleicht stillsten aller Zivilisationskrankheiten, wird man immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Fast so, als würden wir uns selbst «CQ» zurufen.

Buch
Kristen Radtke
Seek You – Eine Reise in die Einsamkeit
352 Seiten
(Helvetiq 2023)