Wien im Winter 1945. Ein trostloser Ort muss die traditionell glitzernde Metropole damals gewesen sein. Sie war in die vier Sektoren der Siegermächte aufgeteilt, die sich politisch zutiefst misstrauten. Rechtlosigkeit herrschte auf den Strassen, Schieber und Betrüger dominierten das Stadtleben.
Der Engländer Rollo Martins kommt in dieser Tristesse an, um hier seinen Jugendfreund Harry Limes zu treffen. Doch dieser ist kurz vor der Ankunft Martins’ bei einem Autounfall ums Leben gekommen, wie ihm allerorts versichert wird.
Die unmittelbare Nachkriegszeit
Der Besucher ahnt, dass die Sache nicht koscher ist. Wenn immer er mit Zeugen spricht, stimmen die Berichte zwar in grossen Zügen überein, aber in Details ergeben sich Differenzen. Martins wird misstrauisch; trotz Warnungen macht er sich auf die Suche nach Limes, er glaubt nicht an dessen Tod. Das ist die Ausgangslage des kurzen Romans «Der dritte Mann» des englischen Schriftstellers Graham Greene (1904–1991), der das Werk zuerst als Drehbuchentwurf für den Film des Regisseurs von Carol Reeds geschrieben hatte. Ein Ich-Erzähler spielt Vermittler zwischen dem Leser und Martins, sodass man die Geschichte nur aus zweiter Hand mitbekommt. Diese Distanz trägt zum Unheimlichen bei. Nichts ist, wie es scheint.
Die Edition Büchergilde hat den Roman «Der dritte Mann» nun in einer neuen Übersetzung von Nikolaus Stingl herausgegeben. Die renommierte Hamburger Illustratorin Annika Siems hat die Tusch-Illustrationen dazu entworfen. Ihre Zeichnungen treffen die Atmosphäre in der unmittelbaren Nachkriegszeit der österreichischen Metropole perfekt: Düster, bedrohlich, entseelt erscheint die Welt dem Leser. Die Protagonisten treten dem Betrachter mit ausdruckslosen Gesichtern entgegen, aus denen sich Einsamkeit und vor allem Angst herauslesen lassen. Teilnahmslosigkeit war die Überlebensstrategie der Stunde.
Graham Greene – eine schillernde Figur
Das ist genau die Stimmung, die Greene in seinem Roman eingefangen hat und die im Spielfilm von Carol Reed von 1949 spürbar ist. Der heisse Krieg war endlich zu Ende, der kalte hat soeben eingesetzt.
Der englische Erfolgsautor Graham Greene war eine schillernde Figur. Er konvertierte in jungen Jahren wegen seiner Frau zum Katholizismus, sah sich aber nie als wirklich gläubig, sondern hielt sich für einen «katholischen Atheisten». Er wollte eigentlich als ein ernsthafter Literat in die Geschichte eingehen. Aber seine grössten Erfolge hatte er mit locker und spannend geschriebenen Büchern. Dazu gehörten etwa die heiteren «Reisen mit meiner Tante» oder die geniale Spionagegeschichte «Unser Mann in Havanna» über einen westlichen Spion wider Willen kurz vor der kommunistischen Castro-Revolution.
Buch
Graham Greene
«Der dritte Mann»
Deutsche Erstausgabe: 1950
Neu erschienen bei: Edition Büchergilde.