Er ist Theaterregisseur, Intendant, Architekt, Kulturvermittler, Theologe, Tourismus-Manager und noch viel mehr. Giovanni Netzer fühlt sich in vielen Rollen wohl und tanzt auf mehreren Hochzeiten beziehungsweise Bühnen gleichzeitig. «Kulturelle Tätigkeit muss man nicht zwingend in alten Gattungen denken. Sie muss sich nicht auf den Bühnenraum beschränken», sagt der Bündner Tausendsassa im Telefoninterview, für das er sich auf dem Weg nach Mulegns etwas Zeit freischaufeln konnte.
In diesem Bündner Passdorf, das gerade noch 16 Einwohner hat, engagiert sich Netzer mit seiner Stiftung. Sein Ziel: Mulegns und den reichen kulturhistorischen Bestand vor dem Aussterben retten. «Wir wollen das Dorf wieder beleben, Arbeitsplätze schaffen. Mulegns soll eine kulturelle Raststätte auf dem Weg ins Engadin werden», sagt er. So wurde etwa die «Weisse Villa» in einer spektakulären Aktion verschoben, um das denkmalgeschützte Haus trotz Strassenerweiterung zu erhalten. Nun kann man sich hier im Zuckerbäcker-Café verköstigen, und eine Ausstellung zeigt erste Muster für eine zeitgenössische Installation im Dorf. Denn der nächste Coup steht schon bevor: In Zusammenarbeit mit der ETH entsteht in Mulegns der «Weisse Turm», der Raum bietet für Theateraufführungen, Hörspieltouren oder Kunstinstallationen. Weltweit noch einzigartig ist die Bauart. Es handelt sich um ein komplett digital gedrucktes Gebäude. Netzer schwärmt von der neusten, nachhaltigen Technologie und der inspirierenden Zusammenarbeit zwischen Kunst und Forschung. «Sie sind in der Lage, Räume zu kreieren, die es so noch nicht gibt. Für unser Festival, das dem Raum viel Bedeutung zumisst, sind das neue Optionen.»
Ob Netzers begeisterten Ausführungen geht im Gespräch fast das aktuellste Projekt unter: Demnächst startet das Origen Sommerfestival Creaziun. Trotz allen coronabedingten Einschränkungen, die den Organisatoren viel Nervenstärke abverlangen, sind elf Uraufführungen mit Künstlern aus aller Welt geplant sowie weitere Veranstaltungen zwischen Tanz, Konzert, Musiktheater und Commedia. Die Produktionen kreisen um die Themen «Schöpfung und Zerstörung, Paradies und Weltuntergang». Wie immer lässt der Intendant seinen Künstlern viel Freiraum. Er ist überzeugt, dass die speziellen Spielorte wie der rote Julierturm mitten in der schroffen Berglandschaft bei den Kunstschaffenden andere kreative Kräfte freisetzen, als wenn sie in einem klassischen Theaterraum spielen würden. Die Lage fernab aller kulturellen Zentren hat sich als Vorteil erwiesen, zumal mittlerweile die grossen europäischen Theaterhäuser mit Netzer zusammenarbeiten wollen, was ihn zu weiteren Kulturvisionen anstachelt: «In diesen charakterstarken Räumen können wir im Dialog mit der Natur experimentieren und neue Welten erfinden.»
Giovanni Netzers Kulturtipps
Musik
Peter Pears & Benjamin Britten: English Folksongs (Decca 2004)
«Der Komponist Britten hat extrem schöne, hochemotionale und intelligente Volksliedbearbeitungen gemacht. Die Sänger des Origen Ensembles interpretieren einige Lieder am Festival.»
Buch
D. Steinwede/D. Först: Die Schöpfungsmythen der Menschheit (Patmos 2004)
«Fürs Festival habe ich über Schöpfungsmythen aus anderen Kulturen gelesen. Dieses Buch zeigt, wer auf der Welt die Entstehung wie erklärt.»
Buch
Philip Wilkinson: Atlas der nie gebauten Bauwerke (dtv 2017)
«Ein spannendes Buch mit visionären Ideen!»
Sommerfestival Creaziun
Do, 1.7.–So, 15.8.
www.origen.ch