Was für eine Intensität. Und welch ein Grübeln. Und Suchen. Und kaum denkt der Gast im Basler Kulturzentrum «Don Bosco» beglückt, dass bei der CD-Aufnahme einer Haydn-Sinfonie der gespielte Satz famos im Kasten sei, hat der Aufnahmeleiter, der erste Geiger oder Dirigent Giovanni Antonini einen Einwand. Und alles geht von vorne los.
«Haydn ging es um Signale und Gesten»
Nach Aufnahmeschluss aber scheint Antonini alles hinter sich gelassen zu haben – und lacht gleich bei der ersten Frage laut auf, um dann seriös zu antworten. Wie kam es, dass das Luzerner Festivalthema «Paradies» lautet, er aber im KKL in Luzern die «Jahreszeiten», in Gstaad hingegen die «Schöpfung» dirigieren wird – also jenes Oratorium, in dem Adam und Eva eine wichtige Rolle spielen?
Ausweichend sagt er, dass jedes Festival nun mal sein Thema brauche, das es zu umkreisen gilt. Und dass die zwei Festivals sich freundschaftlich verbunden seien, man sich allenfalls sogar abgesprochen habe. Und schliesslich spielen die «Jahreszeiten» auch in dieses «Paradies»-Thema hinein: «Es geht doch um unsere Erde. Ein Paradies, das wir zerstören.»
Mehr interessiert ihn die Frage, ob diese Werke ein End- und Höhepunkt in Haydns Schaffen seien. Doch Antonini gefällt es nicht, dass man späte Werke als besser bezeichne als frühe. Und er präzisiert: «Es gibt keine Entwicklung in Haydns kompositorischen Strategie, er dachte bei der 45. genau wie bei der 104. Sinfonie an das Publikum: Wie kann ich es verblüffen oder überraschen? Da gibt es Nachrichten ohne Worte, es ging ihm um Signale und um Gesten.»
Klar ist für ihn, dass die zwei Werke Haydn unsterblich machten, vor allem die «Schöpfung». Sein Status und seine Berühmtheit seien damit ungemein angestiegen, hätten ihn ins 19. Jahrhundert gebracht.
Sogleich taucht Antonini redend ein ins Werk. Er zeigt auf, wie Haydn in der «Schöpfung» mit unerwarteten Harmonien überrascht und das berüchtigte «Chaos» musikalische Türen öffnet, die an Wagner denken lassen.
Das Ohr wird zum äusseren Auge
Eine Herausforderung bleibt die Aufführung der beiden Werke wegen der Bühnen: Die «Schöpfung» spielt man mit dem genau gleich grossen Orchester, Chor und Solisten in der engen Kirche in Saanen wie die «Jahreszeiten» im grossen KKL in Luzern.
Es funktioniere da wie dort, trotz Unterschiedlichkeit: «Das KKL hat natürlich viele akustische Vorteile, wohingegen in der Kirche viel Hall ist, was die Balance schwierig macht. Und dann steht in Saanen in der Mitte der Bühne auch dieser berüchtigte Altar. An allen Orten gilt es in der Vorprobe, den Saal zu begreifen, zu regieren, sich je nachdem neu zu orientieren. Ein Forte ist dann plötzlich ein Mezzoforte für die Trompeten.»
Das will heissen, dass das lange Erprobte dann plötzlich Änderungen erhält, da werde der Dirigent zu einem Regisseur wie im Film: Das Ohr wird zum äusseren Auge.
Das bange Gefühl vor dem Orchester bleibt
Der beneidenswert jugendlich wirkende Antonini wird in zwei Jahren 60, ist schon Jahrzehnte im Geschäft und sagt auf die Frage, wo er in der Karriere stecke, bezeichnenderweise: «Ganz ehrlich, manchmal denke ich, dass ich letztes Jahr mit Dirigieren begonnen habe. Aber ich sehe das positiv. Trete ich vor ein Orchester, das ich nicht kenne, habe ich jedes Mal dieses bange Gefühl wie vor 30 Jahren. Das kommt aber auch daher, dass ich immer vorwärts gehe, nichts so nehme, wie ich es immer machte.»
Und wenn er dann auf Musiker trifft, die ihm sagen, sie hätten schon als Kind seine Aufnahmen der «Vier Jahreszeiten» gehört, merkt er, dass er das 1994 aufgenommen hat: «In einem anderen Leben.»
Antonini ist bestens im Geschäft. Es erstaunt deshalb sehr, dass sein Wikipedia-Eintrag veraltet ist, er keine Website hat, kein Twitter und kein Facebook benutzt. Er erhebt den Finger und sagt lächelnd: «Ich muss zu meiner Verteidigung sagen, dass ich alle drei Wochen etwas auf Instagram poste. Aber dieser Social-Media-Exhibitionismus ermüdet mich bisweilen. Ich brauche tatsächlich nicht mehr Engagements, arbeite zu viel. Warum also das Ganze?»
Auch den exzessiven Gebrauch von Superlativen mag er nicht: «Diese wunderbare, genial schöne, aussergewöhnlich grossartige Welt, diese unglaublich fantastischen, kolossalen Konzerte mit Superorchestern … Vielleicht habe ich die Zurückhaltung von meinem Vater. Er wurde ‹der Unscheinbare› genannt, ‹l’Inappa - rente›.»
Wegkommen vom Hyperexhibitionismus
Und so denkt er sehr gerne an die Vergangenheit – und dass es bisweilen schön wäre, wieder auf dem damaligen technischen Standpunkt zu sein, wegzukommen vom Hyperexhibitionismus, von diesen tausend Sachen, die uns um den Kopf schwirren: «Wir sind einem pausenlosen Gewitter von Informationen ausgesetzt.»
Von dieser Informationsflut befreien könne man sich durchaus. Ausschalten heisse das Zauberwort. «Natürlich ist das schwierig, aber glauben Sie mir: Schon allein, wenn Sie auf SMS oder Whatsapp verzichten, nur noch telefonieren, gewinnen Sie viel Ruhe.»
Die innere Energie lodert umso feuriger. Antonini ist das beste Beispiel dafür.
Konzerte
Die Schöpfung
So, 30.7., 17.00
Konzertsaal Arena
Klosters GR
am Festival Klosters Music
Mo, 31.7., 19.30
Kirche Saanen BE
am Gstaad Menuhin Festival
Die Jahreszeiten
So, 3.9., 18.30
KKL Luzern am Lucerne Festival
Stars in Gstaad
Die 67. Ausgabe von Gstaad Menuhin Festival & Academy steht im Zeichen der «Demut» und markiert das erste Jahr innerhalb des drei Jahre dauernden Wandel-Zyklus. Drei Konzerte zum neuen Zyklus unter dem Namen «Music for the Planet» sind konzipiert und umgesetzt von Patricia Kopatchinskaja.
Unter anderem treten die Sängerinnen Cecilia Bartoli, Pretty Yende und Sonya Yoncheva auf, die Geiger Gil Shaham und Daniel Hope, die Pianistinnen Yuja Wang, Mitsuko Uchida, Khatia Buniatishvili und Maria João Pires sowie Dirigenten wie Jaap van Zweden und Mirga Grazinyte-Tyla.
Gstaad Menuhin Festival
Fr, 14.7.–Sa, 2.9.
www.gstaadmenuhinfestival.ch