«Jetzt bin ich vor allem gespannt, wie das Publikum das Programm aufnehmen wird»: Drei Wochen vor Festivalbeginn sitzt Giona A. Nazzaro beim Gespräch über Videotelefon in seinem Arbeitszimmer in Rom. Ein Bücherregal im Hintergrund verrät ihn als Homme de Lettres. Er wirkt entspannt und konzentriert.
Locarno ist für den Filmpublizisten, der seit einigen Jahren bei der Programmgestaltung diverser Festivals mitwirkte, ein Traumjob. Nachdem das grösste Festival der Schweiz letztes Jahr hybrid stattfand, soll es 2021 «normal» über die Bühne gehen. Als Veranstaltung vor Ort, wo das Kino zum Erlebnis wird. Denn für Nazzaro, den noch heute jedes Mal ein «erwartungsvolles Kribbeln» überfällt, wenn er ein Kino betritt, ist «Kino im Sinne des französischen ‹Cinéma› die Tür zur Welt». Und Filme gehören zu seinem Leben dazu. Ins Schwärmen gerät er, wenn er von seiner Kindheit und frühen Jugend in Zürich erzählt und schildert, wie er damals aus dem «Züri Leu» fein säuberlich Kinowerbungen und Filmbesprechungen ausschnitt. Als das Gespräch auf den Jazz kommt, dreht er spontan die Kamera und gibt den Blick auf seine stattliche Sammlung von Vinyl-Platten frei. «Eine späte Leidenschaft», sagt er, «aber eine riesige».
Durch die Kritiken hat er sehr jung schon entdeckt, dass jenseits von «Star Wars» ein «anderes Kino» existiert: das eines Luis Buñuel, Ingmar Bergman, Roberto Rossellini und der Nouvelle Vague. Ein Blick auf die Liste seiner Publikationen verrät als weitere Vorlieben den Actionfilm, die Werke von Gus van Sant, Spike Lee und Abel Ferrara.
Kalkulierender Planer und passionierter Cinephiler
Ferraras neuster Film «Zeros And Ones» findet sich im diesjährigen Programm von Locarno. Und auch die auf der Piazza programmierten modernen Klas-siker «The Terminator» und «Heat» spiegeln seine persönlichen Vorlieben. Doch Nazzaro ist ebenso kühl kalkulierender Planer wie passionierter Cinephiler. «Das Geheimnis guter Programmgestaltung liegt darin, nie zweimal das Gleiche zu tun», verrät er. Und fügt an, dass Locarno ein magischer Ort des Kinos sei. Eines Kinos, das sich seit seiner Erfindung stetig weiterentwickelt und verändert.
Die Welt des Films ist in den letzten 30 Jahren diverser geworden. Die «klassische Kritik» ist verschwunden. Die jungen Filmemacher von heute erlernen als Kinder des digitalen Zeitalters ihr Handwerk mit Blick auf eine globale Welt. Gerade auch in der Schweiz, die in Locarno unter anderem mit Stefan Jägers «Monte Verità» und mit Lorenz Merz’ «Soul of a Beast» prominent vertreten ist.
Er werde das Festival von Locarno nicht völlig umkrempeln, aber gezielt in die Zukunft führen, sagt Nazzaro. Seine Worte setzt er erstmals in die Tat um mit der neuen Programmsektion «Locarno Kids: Screenings», die «für Kinder und Kind Gebliebene» ein zukünftiges Publikum anspricht.
Locarno Film Festival
Mi, 4.8.–Sa, 14.8.
www.locarnofestival.ch
Giona A. Nazzaros Kulturtipps
CD
Wadada Leo Smith mit Milford Graves und Bill Laswell: Sacred Ceremonies
«Der grossartige Schlagzeuger Milford Graves, eine Schlüsselfigur der Free-Jazz-Bewegung, in einem bewegenden Zusammenspiel mit Leo Smith und Bill Laswell.»
LP
Angel Bat Dawid & Tha Brothahood: Live
«Eine der besten Jazz-Stim-men in einer grossartigen Liveshow. Unglaublich ehrlich, roh und fast schon schmerzhaft schön.»
Buch
John Fowles: Der Magus
«Ein fesselndes Buch über Täuschung und Erzeu-gung einer alternativen Realität, in der Gott gespielt wird.»