Dieses Buch hat mir bei meinen Nachforschungen sehr geholfen. Weniger durch das, was der Autor sagt, als vielmehr durch das, was er NICHT sagt. Man muss die Anspielungen lesen können. Die Leerstellen.» (Pablo De Santis: «Die Übersetzung»)
Willkommen zu meiner Carte blanche. Eine Carte blanche ist für einen Schriftsteller das Schlimmste, was man ihm unterjubeln kann. Denn was erwartet der Aushändiger der Carte blanche? Was erwartet der Leser? Dass der Schriftsteller das weisse Papier füllt. Nun gibt es genau EIN beständiges Element im Leben eines Schriftstellers: die weisse Seite. Jeden Morgen sitzt er wieder vor einer neuen weissen Seite, und sie kennt keine Gnade. Sie will nicht weiss bleiben. Sie darf nicht weiss bleiben. Sonst verdient der Schriftsteller keinen roten Rappen und kann sich keine Dosenravioli zum Mittagessen kaufen und keinen Schnaps zum Znacht. Und keine weiteren weissen Blätter. Was ja eigentlich die Rettung wäre. Hm …
Wenn ich also an dieser Stelle abbräche …
… sähe es so aus wie die drei leeren Zeilen oben. Sie haben sich ganz wunderbar leicht NICHT-geschrieben. Es war das reinste Vergnügen, sie nicht zu schreiben. Finden Sie, dass sie weniger wert sind als Zeilen, auf denen etwas steht? Ist es für Sie nicht eine ungeheure Erleichterung, dass da nichts steht? Zumindest haben Sie Zeit gespart, weil Sie nichts lesen mussten, das können Sie nicht abstreiten – zwar nur einige Sekunden, aber immerhin! Wenn jetzt da nicht nur drei leere Zeilen gewesen wären, sondern sechs, hätten Sie schon die doppelte Anzahl Sekunden gespart. Und hätten früher ins Bett gehen können oder sonst irgendetwas. Sie hätten auch früher die nächsten drei Leerzeilen nichtlesen können:
Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie hätten in Ihrem ganzen Leben nur Leerzeilen nichtlesen müssen: Sie hätten schätzungsweise 40 Lebensjahre gespart und wären jetzt dementsprechend 40 Jahre jünger (für Leute, die noch gar nicht 40 sind, würde das bedeuten: Sie wären noch gar nicht auf der Welt).
Für den Menschen ist es etwas vom Schwierigsten, Leere auszuhalten. Er braucht etwas, aus dem er «etwas machen» kann. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein weiteres Zitat aus dem Roman «Die Übersetzung» von Pablo De Santis einfügen (ein Buch, das ich gerade, äh, nicht gelesen habe): «Aus dem Buch von Nemboru hatte ich gelernt, dass die Symbole in, zwischen oder hinter den Dingen auf uns lauern und dass es nichts Sichtbares gibt – nicht einmal 80 Kilometer Wüste –, wo nicht ein Zeichen, eine Letter oder Botschaft unser harrt.»
Grässlich, nicht wahr? Das Hirn will rattern und rattern und erfassen und interpretieren und Bedeutung zumessen und in den Kontext setzen und hinterfragen und vergleichen und etwas doppelt unterstreichen. Pausenlos. Ich möchte Ihrem Gehirn deshalb ein wenig Ruhe spendieren und Sie bitten, auf folgende leere Stelle im Text zu blicken:
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Sind Sie schon/noch/wieder da? Das freut mich. Doch, das meine ich ehrlich! Ich möchte Ihnen gratulieren: Sie haben ihn ausgehalten – den horror vacui. Die Angst vor der Leere. Oder haben Sie – obwohl die Stelle oben vollkommen leer ist – trotzdem eine Botschaft darin entdeckt? Dann lesen Sie die Stelle unverzüglich noch einmal nicht. Bis Sie wirklich keine Bedeutung mehr darin erkennen. Denn in dieser leeren Stelle lauert absolut NICHTS auf Sie. Ehrlich!
(Ich hätte Ihnen auch sagen können: Stellen Sie sich vor, an der leeren Stelle stehe etwas Erfreuliches. Sie hätten sich schlagartig besser gefühlt – aber niemals so gut, wie wenn dort einfach NICHTS steht.)
«Die Weisse des Wals», heisst der Titel des 42. Kapitels von Herman Melvilles Epos «Moby Dick». Zunächst einmal lässt es falsche Hoffnungen aufkommen, denn es ist nicht weiss. Aber es geht der Frage nach, «warum die weisse Farbe uns dermassen aufs Gemüt schlägt. (…) Liegt es daran, dass sie durch ihre Wesenlosigkeit an die leblose Leere und Unermesslichkeit des Weltalls gemahnt und uns solchermassen hinterrücks mit der Vorstellung der Vernichtung überfällt, wenn wir in die weisse Weite der Milchstrasse schauen?»
Wir wollen alles ausfüllen. Jeden Quadratmillimeter unseres Lebens. Doppelt und dreifach, wenn es geht. Bis zum totalen Overkill. Schauen Sie sich die Gemälde von Adolf Wölfli an. Mit welcher Besessenheit er das Nichts bekämpft hat! Nirgendwo ist dort nichts. Es wimmelt von Notenlinienengelnaugengesichternblumenghirlandensanttamariaburgriesentraubenstrichniinmilchvittrioolbentziinzungsangtrauermärschensktwandannakathedralen. Horror vacui. «Zur Fantasie verurteilt», lautet der Titel eines Artikels über den Künstler im «Bund». Er beginnt mit einem Zitat von David Bowie: «Mein Gehirn schmerzt wie ein Warenhaus, da ist kein Platz mehr frei.»
Wahrlich, ich sage euch: Erlösung bringt nur das Evangelium des reinen NICHTS, an dessen Anfang kein Wort steht. Das Buch NUR aus Leerstellen. Die wirklich nur Leerstellen sind und nichts anderes.
Die Anhänger des Evangeliums des reinen NICHTS erkennen sich gegenseitig an einem weissen Ansteck-Button. Wobei: Schon dieser weisse Button ist zu viel. Darum lassen sie ihn weg. Sie treffen sich in der Kirche des reinen NICHTS. Weil diese aus reinem NICHTS besteht, lässt sich ihr Standpunkt auf keiner Karte eintragen und auch nicht auf Google Maps finden. Aber Sie wissen trotzdem genau, wo Sie sich befindet. Sie werden dort erwartet.
Gion Mathias Cavelty
Der Bündner Schriftsteller und Nichtleser (*1974) lebt in Zürich Schwamendingen. www.nichtleser.com