Auf der Insel wuchs kein einziger Baum. Die Insel war ein baumloses Stück Land, leicht hügelig und von einer Aussicht, die rundum schön war. Auf dieser Insel lebten ausschliesslich Kinder. Wie es dazu kam, das konnte niemand sagen. Auch nicht die Kinder.
Über die Insel wurde gesagt, dass sie kaum zu erreichen sei.
Nur selten gelangten ein verirrter Fischer oder eine Schiffbrüchige dorthin und wurden von den Kindern mit einem Händedruck begrüsst oder einem mittelkräftigen Schlag auf die Schulter.
Die Kinder kannten sich aus mit den Gezeiten und den Tieren der Tiefsee. Sie wussten Bescheid über Pottwale und dass diese am tiefsten von allen tauchten.
Die Kinder selber tauchten nicht. Sie schwammen nicht. Sie fürchteten sich vor Wasser.
Die Kinder rochen nach den Federn, die an ihren Kleidern klebten. Die Federn stammten von den Seevögeln, die sie fingen und assen. Die Seevögel waren ihre Hauptnahrungsquelle. Die Seevögel waren wichtig für sie.
Wenn ein verirrter Fischer oder eine Schiffbrüchige auf der Insel landeten und die Insel wieder verliessen, sagten sie später, dass, wenn man die Kinder sehe, man zuerst an Federn denke, dann an Vögel und erst dann an Kinder.
Sie konnten gut klettern. Ihre Finger ähnelten Vogelkrallen, mit denen sie sich in den feinen Felsritzen festhalten und hochziehen konnten, bis zu den Nistplätzen und Nesthöhlen ganz oben. Dort stahlen sie die Eier und griffen nach Vögeln, nach jungen und alten.
Die Kinder lebten auf der Insel in einem Dorf aus Steinen, durch das eine Strasse führte, die sie «Die Strasse» nannten.
Sie sagten von sich selber, sie seien robust.
Auf der Insel lebten auch eine Feldmausart und eine Zaunkönigart. Beide Arten waren doppelt so gross wie die Arten auf dem Festland. Je weniger natürliche Fressfeinde Tiere haben, desto grösser werden sie, das wussten die Kinder.
Die Kinder hatten keine natürlichen Fressfeinde, aber gross waren sie trotzdem nicht.
Ebenfalls klein waren die Ziegen. Es war eine kleine zähe Ziegenart, und sie waren eine gern gesehene Abwechslung auf der Speisekarte der Kinder. Die Ziegen frassen das wenige Gras, das auf der Insel zu finden war. Die Bedingungen waren hart. Die Ziegen aber hielten stand.
Und noch hielten auch die Kinder stand.
Die Kinder sagten über sich, dass auch sie wie die Ziegen seien; zäh und gut darin, sich auf steilem Felsland im Gleichgewicht zu halten.
Wenn ein verirrter Fischer oder eine Schiffbrüchige auf der Insel landeten und die Insel wieder verliessen, sagten sie später, dass die Kinder die Insel nicht verlassen wollten unter keinen Umständen und für keinen Preis.
Nach einigen Jahren, als die Erzählungen der Fischer und Schiffbrüchigen sich häuften und die Kinder auf der Insel eine Attraktion für Touristinnen und Touristen wurden, war die Insel zwar noch immer ein baumloses Stück Land, leicht hügelig und von einer Aussicht, die rundum schön war. Aber diese Aussicht wurde immer wieder von grossen Kreuzfahrtschiffen versperrt, die nun einmal am Tag anlegten und viele Touristinnen und Touristen auf die Insel entliessen.
Von da an verkauften die Kinder ausgeblasene und bemalte Seevogeleier, stellten an den steilen Felsen Vogeljagden nach und dressierten die zähen Ziegen, brachten ihnen Kunststücke bei, lehrten sie, auf zwei Beinen zu gehen und sich im Kreis zu drehen. Die Touristinnen und Touristen warfen Geldmünzen und klatschten, und die Kinder wurden bald zu einer Idee ihrer selbst.
Die Zeitkapsel platzte.
Die Kinder verliessen die Insel.
Auf dem Festland wusste man zuerst nicht, was mit den Kindern anzustellen sei. Man konnte sie nicht zu Schulkindern machen, weil sie nicht stillsitzen konnten, und auch nicht zu Büroangestellten, aus demselben Grund.
Aber da die Holzindustrie zu dieser Zeit florierte, kam man schnell auf die Idee, dass die Kletterkinder da am besten einzusetzen seien. Die Kinder also, die in ihrem Leben noch nie zuvor Bäume gesehen hatten, kletterten jetzt auf ihnen herum, wie früher auf den steilsten Klippen im offenen schäumenden Meer.
Die Kinder arbeiteten in Sägewerken und Forstbetrieben, von den Bäumen holten sie Honig wie früher Vogeleier und Vögel, oder fällten sie. Seit sie von der Insel weg waren, kleben keine Vogelfedern mehr an ihnen, und beinahe sahen sie aus wie ganz gewöhnliche Kinder.
Manchmal, wenn Schiffe genügend nah an der Insel vorbeifuhren, dann meinte die Schiffsbesatzung auf der Insel schwarze Punkte herumgehen zu sehen. Die Kapitäninnen und Matrosen sagten dann, dass das die Ziegen seien. Und wenn der Wind aus einer geeigneten Richtung wehte, dann war manchmal ein Meckern zu hören.
Weil mit den Kindern auch ihre natürlichen Fressfeinde von der Insel verschwunden waren, wurden die zurückgebliebenen zähen Ziegen grösser und grösser. Sie konnten sich von nun an in ihrer Körpergrösse in aller Ruhe ausdehnen.
Es wurde vermutet, dass irgendwann auch die nun riesengrossen zähen Ziegen zu einer Attraktion für Touristinnen und Touristen werden würden. Einerseits aufgrund ihrer Grösse, die einzigartig war. Und andererseits, weil sie die Kunststücke, die ihnen die Kinder einst beigebracht hatten, immer noch beherrschten: Sie gingen auf zwei Beinen, sie drehten sich im Kreis, dort draussen auf der Insel, auf dem baumlosen Stück Land.
Gianna Molinari
Die Autorin ist 1988 in Basel geboren. Sie hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der Universität Lausanne studiert. Gianna Molinari lebt in Zürich, wo sie mit anderen Autorinnen und Autoren die Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert» für Menschen auf der Flucht betreibt. Für ihr Romandebüt «Hier ist noch alles möglich» (Aufbau Verlag 2018) hat sie etwa den Robert-Walser-Preis erhalten und war für den Deutschen Buchpreis sowie den Schweizer Buchpreis nominiert.