Der Meister ist bescheiden. «Ich sah mich nie als Genie», sagt er. Er habe vielmehr versucht, all das künstlerisch umzusetzen, was er verspürte: «Wenn man mich nicht verstand, hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt.»
Diese Sätze stammen aus einem kürzlich auf Deutsch erschienenen Band mit dem Titel «Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel». Das Buch enthält neun «Plaudereien» («bavardages») zwischen dem französischen Maler Henri Matisse (1869–1954) und dem Schweizer Kunstkritiker Pierre Courthion. Der Künstler, der sich damals nach einer Darm-Operation erholen musste, nahm sich die Zeit, Reminiszenzen vergangener Jahre und seine Weltsicht darzulegen. Künstlerisch wandte er sich in jener Zeit den Scherenschnitten zu, wie sie zum Teil letztes Jahr im Kunsthaus Zürich zu sehen waren.
Die Gespräche gerieten in Vergessenheit
Henri Matisse gibt in den «Plaudereien» viel von sich preis. So berichtet er von seinen Anfängen, als ihn der Zeichenunterricht in der Schule packte, den er mit einem Kollegen besuchte: «Wir studierten das Model, das wir vor Augen hatten – ein Feigenblatt, eine römische Büste – und kümmerten uns nicht darum, was sonst in der Klasse geschah.» Trotz seiner Hinwendung zur Kunst absolvierte Matisse auf Wunsch seines Vaters eine Ausbildung als Notar, bevor er sich an Pariser Kunstschulen weiterbildete.
Die Treffen von Matisse und Courthion fanden im Kriegsjahr 1941 in Lyon und Nizza statt. Die Aufzeichnungen gingen jedoch vergessen. Denn der Verleger, der Kunstkritiker und Matisse zerstritten sich wegen editorischer Belange. Das Projekt wurde aufgegeben, wie der Übersetzer, der Zürcher Anglist Thomas Bodmer, im Vorwort schreibt. Die Gespräche wurden erst vor ein paar Jahren in den Beständen des Getty Research Institutes in Los Angeles gefunden.
Matisse berichtet von seinen prägenden Erfahrungen als Künstler. So war im Jahr 1930 eine umständliche Reise in die Südsee nach Tahiti zentral für ihn und seine weitere Entwicklung. Ähnlich wie sie der Künstler Paul Gauguin eine Generation früher unternommen hatte: «Ich habe dort Licht gesehen», sagt Matisse, «Tageslicht vor allem, das absolut aussergewöhnlich ist. Der Himmel scheint aus einem unbekannten Material wie Edelstein gemacht.» Naturgemäss schlug sich diese Erfahrung in seinem Spiel mit den Farben nieder.
Matisse zollt Auguste Renoir Respekt
Ein roter Faden fehlt in den «Plaudereien», das liegt auch am Interviewer Courthion. Er agiert zeitweise lediglich als Stichwortgeber. Manchmal versucht er jedoch mit seinem Wissen, den Künstler zu übertrumpfen, was etwas bemühend wirkt.
Umso besser erkennt man, welch ein grosszügiger Charakter der Künstler Matisse gewesen ist. So zollt er einem Kollegen wie Auguste Renoir Respekt, selbst wenn ihm dieser einen lehrerhaften Ratschlag erteilte, etwa was den Einsatz der Farbe anging. Er müsse laut Renoir seine Farbtechnik ändern: «Man muss unbedingt Öl verwenden, nicht nur die Farben direkt aus der Tube.»
Sieben Liter Bier und kein böses Wort
Matisse scheut sich nicht, seine kindische Seite zu offenbaren. So langweilte er sich während seines Jus-Studiums dermassen, dass er aus seinem Wohnungsfenster mit einem Blasrohr Kittkügelchen auf die Herren mit Zylinder schoss. Wer das als jugendlichen Unfug abtut, täuscht sich. Matisse verspickte später Tonkügelchen aus seiner Pariser Wohnung am Quai Saint-Michel auf die Fischer an der Seine. In beiden Kügelchen-Episoden wurde seine Freude indes getrübt. Die Zielobjekte empörten sich lautstark, Matisse wurde entdeckt und umgehend gebeten, mit dem Spässchen aufzuhören.
Matisse ist ein farbiger Erzähler. So berichtet er mit Witz von einer Reise, die er in der Zwischenkriegszeit nach München unternommen hatte, «wo ich täglich sieben Liter Bier» trank: «Um acht, neun Uhr morgens ass man Würste und trank dazu einen Liter Bier.» Noch auffälliger an den Münchner Erinnerungen ist jedoch, dass Matisse kein böses Wort über die Deutschen verliert. Frankreich war zu dieser Zeit 1941 seit einem Jahr besetzt, aber der Krieg kommt in den Gesprächen nur am Rande vor. Matisse hielt sich sehr zurück und verweist sogar auf Gemeinsamkeiten mit den Deutschen. Er fand München «nicht so anders als die Gegend, aus der ich stamme, Saint Quentin. Flandern und Deutschland, das ist ganz ähnlich…» Denkbar ist allerdings, dass in den Gesprächen sehr wohl unschöne Worte gefallen sind, die der Chronist Courthion aus Sicherheitsgründen nicht aufzeichnete.
Am spannendsten sind die Gespräche, wenn Matisse auf die Kunst zu reden kommt: «Ich dachte besonders viel über Zeichnungen nach, über Genauigkeit und deren Gegenteil. Kein Feigenblatt gleicht einem anderen, keines ist deckungsgleich mit seinem Nachbarn.» Und doch ist dem Betrachter stets das Wesen des Feigenblatts klar: «Sie sind nicht gleich, aber sie sind gleichartig.»
Buch
Henri Matisse
Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel
Plaudereien mit Pierre Courthion
Aus dem Französischen von Thomas Bodmer
287 Seiten
(Kampa 2019)